anatomie eines aufbrechenden politischen konflikts

am besten gefallen hat mir heute einmal mehr die karikatur von chappatte im le temps. denn er stellt angesichts des abstimmungskampfes zur minarett-initiative die frage nach dem stand der politischen kultur in der schweiz.

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vor sechs monaten schlug ich denkbar interessierten kreise vor, eine plattform zu schaffen, die probleme im zusammenleben zwischen menschen verschiedener religionen, kulturen und weltanschauung zu diskutieren. gemeint waren vor allem probleme mit und von muslimen in der schweiz. denn es war klar, das diskussionen über schwimmdispenzen im schulturnen, kopftücher von lehrerinnen, die zulassung der scharia in der schweiz oder burka-trag-verbot in der öffentlichkeit die schweizer und schweizerinnen stark verunsichert haben. doch hatte ich damit nicht durchschlagenden erfolg, weil selbst menschenrechtsorganisationen fürchteten, damit nur eine kettenreaktion auslösen zu können. dabei war genau das meine absicht: nicht die anstehende volksabstimmung zu ventil für unzufriedenheit werden lassen, sondern in einem forum ausbrechende emotionen zu sammeln, ohne dass politische scharfmacher sich der stimmungslage bedienen können.

nun ist ist der politische konflikt mit schwindelerregendem tempo ausgebrochen und hat er sich weitgehend unkontrollierbar ausgebreitet. das gestern vermutete patchwork der schweizer städte für oder gegen das plakatverbot ist zwischenzeitlich realität geworden. sympathien mit einem weitgehenden verbot äussert der bloggende medienminister. dankend nehmen vertreter der islamischen organisationen in der schweiz die unterstützung zur kenntnis. die initianten drohen wutentbrannt mit strafanzeigen. die weltwoche setzt das plakat aufs titelblatt und widmet ihre titelgeschichte dem wirken des rotgrünen wächterrates. cnn und eine ganze reihe von auslandszeitungen verbreiten das bild einer gespaltenen schweiz über die ganze welt, und in einem radio-duell zu den zürcher regierungsratswahlen verliert svp-kandidat stocker die nerven, als ihm sein herausforderer, sp-jositsch, seine irritierenden sinneswandel in sachen minaretten vorwirft.

in den letzten 48 stunden haben wir schon viel über den zustand der politischen kultur in der schweiz erfahren: wir wissen, dass sich befürworter und gegner der plakat auf die aufklärung berufen. uneingeschränkte meinungsäusserungsfreiheit ist den einen wichtig, garantie der menschenrecht steht für die anderen zuoberst. wir wissen auch, wer in zeiten des politischen sturms zum spin-doctoring fähig ist, und wer vom wirbelwind weggefegt ist. und wir wissen, dass wir das nicht nur für uns veranstalten, sondern im ausland ganz genau beobachtet werden. doch wissen wir kaum, was für oder gegen ein bauverbot von minaretten in der schweiz spricht. genau das fürchtete ich vor einem halben jahr: dass angesichts von spannungen, die spürbar sind, metadiskussionen aller art ausbrechen und dominieren werden, ohne, dass wir uns mit der frage beschäftigen, die uns bei der volksabstimmung gestellt wird.

ich bin froh, dass ich der einladung, in der morgigen arena-sendung zum thema nicht teilnehmen muss und kurt imhof den part der analyse übernimmt. denn zu mehr als zu einer anatomie-schau des ausgebrochenen konflikts über rassismus in der schweizer politik wäre ich zwischen georg kreis und christoph blocher nicht in der lage gewesen. und das kann ich beim stadtwandern imit der nötigen ruhe machen, die ich mir angesichts des eskalierenden konflikts auch für die öffentlichen debatte wünsche.

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

9 Gedanken zu „anatomie eines aufbrechenden politischen konflikts“

  1. eine kluge und besonnene Analyse – merci Stadtwanderer! Vielleicht werden wir ausser über Anatomie auch etwas über Pathologie hören in der Arena?

  2. Ich hätte lieber Dich in der heutigen Arena gesehen, denn Du analysiert in meinen Augen ausgewogener.
    Wobei, mir muss es keine Rolle spielen, denn ich hab mir zum Ziel gesetzt, sobald Blocher in einer Arena auftritt, stelle ich den Fernseher grad gar nicht ein.
    Warum? Durchs Arena schauen sollte ich informiert werden, aber wenn ich ein 1 1/2-stündiges Drucheinandergequatsche höre, bin am Schluss der Sendung auch nicht schlauer als vorher.

  3. Ein Forum wie vom Stadtwanderer vorgeschlagen ist sicher sinnvoll und notwendig.

    Trotzdem glaube ich nicht, dass das alleine reicht. Denn ich glaube auch nicht, dass es um andere Relgionen, Kulturen oder Weltanschauungen an sich geht.

    Gegen Minderheiten, Andersgläubige und Andersdenkende zu poltern ist nicht nur dumm, sondern vor allem sehr einfach. Diese Gruppen und ihre Fremdartigkeit dienen vielmehr als Vorwand bzw als Anlass, einen inneren Frust loszulassen. Doch Frust worüber?

    Vielleicht hilft dazu, sich die gegenteilige Frage zu stellen: Worüber können wir SchweizerInnen uns erfreuen?

    Mir fällt spontan die Pensionierung ein. Und hin und wieder ein sportlicher Erfolg. Und die Sommerferien sowie die Weihnachtstage.

    Vielleicht sollten einmal 15 Millionen in eine Werbeaktion gepumpt werden, welche auf ehrliche, glaubwürdige und authentische Weise positive Errungenschaften und positive Eigenschaften hervorheben, ohne dabei eine Nabelschau zu veranstalten, also auch einen nicht wertenden Blick ins Ausland wagen. Dies mit dem Ziel, von innen heraus ein Umdenken, wenigstens aber ein Nachdenken auszulösen.

  4. In der Diskussion über den Islam in der Schweiz dürfe es kein Tabu geben. Das verlangte gestern abend Chrsitoph Blocher in der Arena Sendung. Wenn die Menschenrechtsorganisationen einen solche Runden Tisch nicht wollten muss er jetzt mit Nachdruck durchgesetzt werden. Dafür sind doch Volksasbtimmung da.
    Im übrigen schliesse ich mich der Meinung meiner Vorredner an. Die Analyse ist ausgewogen.

  5. at titus
    abstimmungen haben ein ventilfunktion, das ist mir schon klar. ventile im übertragenen sinn braucht es und gibt es aber auch ohne volksabstimmungen. genau das war meine idee. wo es brodelt, ist es gut, dass man druck abbaut. ohne abstimmungen. denn der druck kann abstimmungen beeinflussen, doch was, wenn sie dann anders herum ausgehen. das hat doch zur folge, dass der druck genau gleich da ist.
    danke, titus, dass du nochmals auf den zusammenhang aufmerksam gemacht hast. natürlich bedient sich die politik gesellschaftlicher spaltungen, daran störe ich mich letztlich nicht. sie instrumentalisiert sie aber zu eigenen zwecken, wenn sie gar nicht interessiert ist, die spannungen abzubauen.

    at hans w.
    ich finde es unverändert gut, wenn es einen runden tisch geben würde, allerdings müsste er, um beim skizzierten gedanken zu bleiben, unabhängig von den politischen protagonisten (beider seiten) sein. er könnte vielleicht sogar einfacher installiert werden, wenn wir die abstimmung abwarten. meist sieht die politische welt rasch anders aus, wenn die abstimmungskampfatmosphäre vorbei ist.

  6. In Genf wurde dieses Wochenende ja wieder einmal Druck abgelassen.

    Und freuen durfte man sich auch ob dem Erfolg der guten Dienste der Schweiz. Ein Plakat hängt dafür niemand auf – leider…

  7. Die irrationalen Aengste vor einer zukünftigen Dominanz islamischer Gruppen, vor Muezzinrufe über Schweizer Dächer, vor Scharia-Urteile, die demokratisch verbürgte Rechte übergehen, ist existent. Selbst Vertreter aus evangelikalen Kreisen sehen die christlichen Grundwerte bedroht und sind von den EDU-Bedrohungsszenarien überzeugt. Das Abstimmungs-Plakat der SVP widerspiegelt ihr inneres Stimmungsbild.

    Von all den namhaften Stimmen, die vernunftorientiert vor einem unnötigen Konflikt mit dem Islam warnen und zum Dialog aufrufen, möchte ich zusätzlich diejenige vom deutschen Ex-Bundeskanzler Helmuth Schmidt erwähnen: „ … besonders gegenüber dem Islam werden Toleranz und Kompromissbereitschaft morgen noch wichtiger sein als sie es gestern schon gewesen sind.“
    (aus seinem Buch „AUSSER DIENST“)

  8. im tagi-online von heute findet sich ein interessanter hinweise auf eine studie (die weiters nicht kenne), die ganz m sinne von titus’ argument ist: “Über Konflikte um Moscheen hat der Italiener Stefano Allievi dieses Jahr eine Studie verfasst. In «Conflicts over Mosques in Europe. Policy issues and trends» untersuchte der Professor der Universität Padua Konflikte in sieben europäischen Staaten und 24 Städten. Er kommt zum Schluss, dass der politische und gesellschaftliche Umgang mit Moscheenbauten nicht nur nationale, sondern auch starke regionale und lokalen Unterschiede aufweist. Die Konflikte seien mehr von Zeitpunkt und Sicherheitsbelangen abhängig als vom Inhalt, so Allievi. Es seien innereuropäische Machtkämpfe um tiefergreifende Veränderungen in der Gesellschaft. Der Islam sei dabei lediglich ein Auslöser eines Streits, der sowieso irgendwann ausgebrochen wäre. Es handle sich also nicht um einen Konflikt zwischen Europa und dem Islam. Beleg dafür sei, dass es – wo das Miteinander funktioniere – keine Stellvertreter-Debatten brauche.”

  9. am 10.10.09 sind in Manchester ca. 750 Rechtsradikale und eine Gruppe von Moslems von einem grossen Polizeiaufgebot vor einer Gewalteskalation getrennt worden.
    Auslöser waren Islamanhänger, die englische Soldaten lauthals provozierten, sich aus Afghanistan zurück zu ziehen.

    Ein lokaler Konflikt, der jedoch von der angespannten Lage zwischen der englischen Politik, sich in Afghanistan weiterhin zum Schutz der Bevölkerung militärisch zu engagieren und sympathisierenden Islamanhänger für die Taliban ausgelöst wurde.

    Insofern geht es nicht um einen Grundkonflikt zwischen Engländer und Moslems im allgemeinen, sondern um radikale Kräfte beider Lager, die bereit sind, sich für ihre Ueberzeugungen militant zu verhalten.

    Wie weit sich andere politische, ethnische oder ideologische Gruppen in England zu derselben Konfliktlage radikalisieren liessen, bleibe dahingestellt.

    In meiner kurzen Stellungnahme, die ich unabhängig von Titus Meinung formuliert habe, – per Zufall habe ich zwei- oder dreimal nach Titus Kommentaren etwas geschrieben -, wollte ich lediglich aus Diskussionen mit einigen evangelikalen Mitglieder deren Ueberzeugung reflektieren.

    Danke trotzdem für die Stellungnahme.

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