christoffelturm, baldachin und gemischter grüner salat

“soll er doch mit berlusconi zusammen eine firma gründen, wie man demokratie untergräbt.” so und ähnlich tönte es heute morgen im postauto, von hinterkappelen, meinem wohnort, nach bern. nur 20 minuten fahrt, aber eine lektion zur ungeschminkten volksmeinung.

gemeint war mit berlusconis möglichem geschäftspartner alec von graffenried, regierungsstaathalter, für dieses amt von der grünen freien liste vorgeschlagen: vor kurzem fällte er einen folgenschweren entscheid, indem er dem baldachin über dem bahnhofplatz die baubewilligung nicht erteilte. damit setzte er einen volksentscheid ausser kraft, denn am 4. juni 2005 stimmten 51 prozent in der stadt bern für die umgestaltung von bahnhofplatz, bubenbergplatz und christoffelunterführung, samt rechtwinkliger verkehrsführung und dem grossem glasdach. deutlicher noch, nämlich mit über 63 prozent ja-Stimmen, gaben die bernerinnen und berner in der zusatzfrage dem baldachin gegenüber den einzeldächern den Vorzug. beteiligt haben sich an der entscheidung immerhin 57 Prozent der stimmberechtigten.


quelle: espace.ch

seit diesem entscheid ist in bern eine richtige kontroverse ausgebrochen, die demokratieverständnis sichtbar macht, die selbst professionelle beobachter aufmerksam werden lässt.

nach allgemeinem politphilosophischem verständnis ist es der sinn der mehrheitsregel, dass sie die stärke politischer lager, die in der öffentlichkeit argumentieren, gewichtet. anders als bei der einstimmigkeit, die nicht immer zustande kommt, hat die mehrheitsregel der vorteil immer zu funktionieren. sie lässt aber auch entscheidungen zu, bei dem jede stimme zählt. knappe entscheidungen können gekippt werden, wenn mit dem gleichen verfahren die knappe mehrheit anders entscheidet. bis das geschehen ist, gelten allerdings volksabstimmungen, so wenigstens die lehrbuchmeinung.

in der lokalen demokratie ist es etwas komplizierter: darf eine kommunale entscheidung gegen kantonales oder nationales recht verstossen? nein, kann man da beifügen, und deshalb macht es sinn, dass man mittels einsprachen diesen sachverhalt klären darf. wer nur entscheidet darüber?

im kanton bern ist es, napoléon sei dank, aufgabe der regierungsstatthalter das verhalten der gemeinden gegenüber übergeordnetem recht zu überprüfen. und das ist in bern eben alec von grafenried. stark beeinflusst wird die laufende debatte durch ein gutachten, dass dieser in auftrag gegeben hatte. denn für eine bewilligung wäre eine verfügung der städtischen denkmalpflege nötig gewesen, die diese, so der regierungsstatthalter, nie erlassen habe. weil umgekehrt der kantonale denkmalpfleger den baldachin via berner zeitung in aller Öffentlichkeit scharf kritisiert habe, sei er gezwungen gewesen, mit einem auswärtigen einen «befreiungsschlag» zu machen. deshalb habe er den emeritierten eth-professor mörsch mit dem gutachten beauftragt. diesem vorgehen habe die stadt zugestimmt, weshalb der statthalter nun nur diese analyse gelten lasse.

an der medienkonferenz ging der regierungsstatthalter aber auch weiter: “der Fall ist absolut klar», der Bahnhofplatz Bern sei «so hoch und so heilig geschützt» wie kaum ein anderer ort in der schweiz. das gewellte glasdach, eben der geplante baldachin, beeinträchtige den raum zwischen heiliggeistkirche und burgerspital erheblich. dieses urteil beinhalte eine subjektive note, gestand von graffenried. aber als statthalter habe er seinen entscheid auf das gerichtsgutachten abzustützen: «Alles andere wäre Willkür.»

willkür wittern andere genau in diesem entscheid. genau deshalb rekurriert nun die stadt bern. «Der Gemeinderat hat den Bauentscheid des Regierungsstatthalters vom 10. April 2006 sorgfältig analysiert und beschlossen, gegen die Verweigerung der Baubewilligung für den Baldachin Beschwerde bei der kantonalen Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion einzulegen», heisst es trocken. dafür lässt regula rytz, gemeinderätin vom grünen bündnis, saftig nachdoppeln: «Wir haben ein Projekt, das als Gesamtes den baurechtlichen und denkmalpflegerischen Vorgaben entspricht», sagt sie gegenüber den medien, und: die zustimmung des städtischen denkmalpflegers liege schriftlich vor. «Es ist deshalb nicht einsichtig, weshalb der Regierungsstatthalter das von den Stimmberechtigten am 5. Juni 2005 angenommene Bauvorhaben mit dem geplanten Glasdach über dem Bahnhofplatz nicht bewilligt hat.»

was nun gilt, hat der kanton selber zu entscheiden. zuständig für die beschwerde der stadt bern ist die bau-, verkehrs- und energiedirektion. dann folgt das verwaltungsgericht. würde der streitfall so noch immer nicht beigelegt, wäre das dundesgericht als letzte instanz in sachen berner baldachin zuständig.

soweit so schlecht. nun hat bern seit gut einem Jahr eine rein rot-grüne regierungsmehrheit im gemeinderat. und seit zwei wochen eine solche im kanton. und jetzt hat man den grün-grünen salat, denn alec von grafenried ist regierungsstatthalter des kantons in der stadt, und er gehört selber zu diesem parteilager. ja, selbst für den gemeinderat von bern, den er jetzt desavouierte, kandidierte er auf der liste, die schliesslich obsiegte. persönlich reichte es für die wahl nicht ganz. trotz erzwungener nachzählungen blieb er eine Handvoll Stimmen von einem exekutivmandat entfernt, – ausgerechnet von der grünen regula rytz verdrängt.

mehr noch: unser regierungsstatthalter ist selber burger. in den leserbriefspalten wird denn auch kräftig auf diesen umstand hingewiesen. als befangener hätte er das dossier doch übergeben müssen, wird da munter gefordert. das sei doch gleich, wie wenn die rytz eine mediation in dieser sache selber moderieren würde!

und nun ist der streit vollends eskaliert: der andere stadtwanderer aus bern, benedikt loderer – gemäss berner zeitung “ein begnadeter prediger wider die «hüslipest» im mittelland” und nach eigenen angaben «als katholik in bern erzogen», seit dem zwanzigsten lebensjahr aber in zürich wandernd, gibt noch eins drauf: “Warum sollte der Bahnhofplatz geschützt sein? Er ist gar kein anständiger Platz. Er ist eine Erfindung des Architekturbüros von Walter Schwaar aus den 60er-Jahren. Der alte Bahnhof reichte bis zur Heiliggeistkirche. Auf Grund der Pläne von Schwaar wurde der neue Bahnhof zurückversetzt. Mit der Ablehnung des Baldachins aus denkmalpflegerischen Gründen wird also eine Situation als positiv und historisch wertvoll geschützt, die erst in den 60er-Jahren entstanden ist. Das ist nicht nur unhistorisch, sondern auch städtebaulich unsinnig.”

Und dann kommt, was mich bis jetzt am meisten überzeugt hat, selbst wenn es blanker Zynismus ist: “Burgerspital und Heiliggeistkirche standen historisch gesehen in einem Kontext mit dem Christoffelturm und später dem alten Bahnhof. … Warum nicht wieder den Christoffelturm aufbauen? Das wäre ein Akzent, der erst noch touristisch verwertbar wäre.”

ja, warum der nicht mehr steht, erzähle ich ein ander mal. dessen abbruch war nämlich ebenso ein lehrstück in sachen demokratieentwicklung, wie uns die stadtgeschichte zwischenzeitlich lehrt. tja, hoffen wir, dass das auch diesmal der fall sein wird …

bahnhofplatzwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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