Wie das Zwei-Kammern-System für das Parlament der Schweiz entstand

Die entscheidende Nacht war vom 22. auf den 23. März 1848 im Berner “Clubb zu den Schmieden”, schreibt der Journalist Rolf Holenstein in seinem neuen Buch “Stunde Null” (Echtzeitverlag).

Neu ausgeleuchtet hat Holenstein insbesondere die Rolle Melchior Diethelm (1800-1873), dem liberalen, katholischen Schwyzer Politiker der Geburtsstunde des Bundesstaates, von Beruf Arzt, Gastwirt und Journalist. Diethelm sei eine „tragische historische Figur mit grossen Verdiensten“, folgert Holenstein nach Auswertung von aller privater Tagebücher der Mitglieder der Verfassungskommission. Denn Diethelm, nicht wie bisher gemeint der Solothurner Katholik Joseph Munzinger, habe dem heute noch bestehenden Zwei-Kammern-Modell mit National- und Ständerat zum politischen Durchbruch verholfen. Doch dann habe er wegen der Opposition in seinem Kanton Schwyz alle Spuren verwischt, lautet das Fazit.

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Hier die massgeblich Chronologie:

16. August 1847 Die Tagsatzung beauftragt eine Kommission, die Revision des Bundesvertrags vom 16. August 1815 auszuarbeiten. Vorsitzender: Ulrich Ochenbein, Vertreter des Kantons Bern

17. Februar 1848: Beginn der Beratungen im Rathaus zum Aeusseren Stand: Eine Mehrheit befürwortet anfänglich den Status Quo für Staatsform (Staatenbund) und Behördenarchitektur (Tagsatzung als oberstes Staatsorgan mit einer Stimme je Kanton, befürwortet von allen kleinere und mittleren Kantonen und Zürich)

7. März 1848: Erste formelle Abstimmung versetzt die Konservativen in die Minderheit, weil Zürich abspringt und Zug, Graubünden und Baselland mitreist.

19. März 1848: Neues Modell, mit zwei Kammern (Repräsentantenrat, 100 Abgeordnete des Schweizer Volkes und 22 Abgeordnete der Kantone, gemeinsame Verhandlungen, bei massgeblichen Entscheidungen wird gemeinsam gestimmt, Opposition der Kantone)

Gleichzeitig im Kanton Schwyz: Melchior Diethelm wird in seinem Kanton ganz entmachtet, bleibt aber von der Tagsatzung gewählter Kantonsvertreter in der Verfassungskommission.

22. März 1848 Melchior Diethelm hält in der Verfassungskommission einen flammende Rede zugunsten des nordamerikanischen Zwei-Kammern-Modells mit zwei getrennten Räten.

22./23. März 1848: Iganz Troxler, Professor für Philosophie an der Universität Bern, Verfasser einer Schrift über „Die Verfassung der Vereinigten Staaten Nordamerikas als Musterbild der Schweizer Bundesreform“ erhält Besuch von Diethelm, anschliessend berät der „Clubb zu den Schmieden“, eine Vereinigung katholischer Kommissionsmitglieder unter Josef Munzinger, informell das Verhalten bei der Abstimmung am folgenden Tag.

23. März 1848: Abstimmung in der Verfassungskommission ergibt eine Mehrheit von 18:5 für das Zwei-Kammern-Modells mit getrennter Abstimmung und notwendiger Zustimmung in beiden Räten. 10 der 18 Ja-Stimmen stammen von katholischen Kommissionsmitgliedern, dagegen sind die Jonas Furrer (ZH), Friedrich Frey-Herosé (AG), Caspar Jenny (GL), Johann Georg Böschenstein (SH) und Alois Michel (OW).

6. April 1848: Melchior Diethelm wendet sich aus Furcht vor der Reaktion im Kanton Schwyz am Ende gegen das Zwei-Kammern-Modell ab, unterliegt aber mit nur 2 Nein-Stimmen.

8. April 1848 Der Verfassungsentwurf wird auf die lange Reise durch Kantonalinstanzen und Tagsatzung geschickt.

12. September 1848: Die neue Bundesverfassung wird mit nur geringfügigen Verbesserungen in Kraft gesetzt.

Quelle: Rolf Holenstein: Wie die Schweiz 1848 den Stein des Weisen fand, in: NZZ Geschichte: Die Geburt der Schweiz. Wie die Verfassung von 1848 zustande kam, pp. 28-49.

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

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