mitten in der konservativen revolution?

es ist ein grosses wort, die konservative revolution. momentan ist es in vieler leute mund, um den umbruch zu kennzeichnen, den wir gegenwärtig erleben. und so frage ich meine kritische leserschaft: stimmt das alles?

2010-48-cover-smallumittelbar nach den sieg der svp bei den national- und ständeratswahlen 2007 proklamierte christoph mörgeli die konservative revolution. der trend verweise nach rechts, und die svp müssen in medien, in schulen und in der verwaltung gestärkt werden.

spätestens mit der abwahl von christoph blocher aus dem bundesrat galt das papier des zürcher historikers als überholt. auch bei mir. angesagt war eine sachorientiert politik unter partnern mit respekt füreinander. die svp schlingerte eine weile, ging vorübergehend in die opposition und musste zusehen, wie sich der konkordanz-orientierte flügel abspaltete und zur bdp wurde.

mit der finanzmarktkrise begann jedoch ein neues kapitel auch der schweizer politik. das vertrauen in banken wurde erschüttert, als der staat der praktisch insolventen ubs mit 68 milliarden franken aushelfen musste. hinzu kam der druck der usa, aber auch der eu mit den schwarzen listen, der zur aushöhlung des bankgeheimnisses und neuen doppelbestreuerungsabkommen mit zahlreichen staaten führt. die politische aufarbeitung des ganzen ist noch im gang; sie hat den missmut der bürgerschaft gestärkt. die abstimmungsniederlagen der behörden bei der minarettabstimmung, aber auch bei der bvg vorlage zeigten dies exemplarisch.

seither ist die stimmunglage mehr oder minder aufgewühlt. die debatte um die anti-abzocker-initiative des schaffhauser unternehmers thomas minder steht exemplarisch hierfür. versuche der beruhigung kommen vom politsichen zentrum her, das sich in der allianz der mitte neu formiert hat. die vorgezogenen bundesratswahlen diesen herbst hätten diese entwicklung verstärken sollen. bis zum tag der wahl glaubte man das auch; doch mit der departementsverteilung brachen die politischen gegensätze an persönlichen rivalitäten wieder auf.

im zurückliegenden abstimmungskampf war die maximale polarisierung angesagt: svp und sp kämpften bedingungslos für ihre initiativen und verbreiteten ein gefühl von wahlkampf 2011. die medien mischten sich teils mit kampagnenjournalismus heftig ein, und der spiegel der emotionen stieg im ganzen land fast täglich an. am ende obsiegte die svp dreimal, alle andere wurden marginalisiert. trutzig wie die volkspartei ist, versammelt sie sich morgen in der romandie, selbst wenn sie dabei im tiefen schnee tagen muss. auch wenn das alles nicht freiwillig geschieht: politische manifestationen unter freiem himmel haben etwas urtümliches an sich, sind zeichen des politkulturellen wandels.

in der tat, ist das wort der konservativen wende seit dem abstimmungswochenende wieder in vieler leute mund. vom programm von mörgeli spührt man die einflussnahme der svp auf die schule. verschiedenen harmos-volksabstimmungen, die mundart-debatte, und das svp-programm für die volksschule haben das gesellschaftspolitische klima aufgemischt. der direkte übergriff auf die medien scheiterte zwar, wie das krasse beispiel der baz zeigte. dennoch ist unübersehbar, dass der einfluss der svp auf diverse zeitungen gestiegen ist und das sich in den neuen e-medien eine eigene szene ausbreitet. einzig bei der verwaltung spürt man von der angekündigten konservativen revolution noch wenig. deren politisierung wäre wohl auch ein fanal.

dazu passt, dass dieser tage diverse einschätzungen des sich abzeichnende klima ins gleiche horn stossen: die weltwoche heute ahmt einen meiner artikel zur befindlichkeit der schweiz auf dem stadtwanderer nach, indem ich über das thema des rückzugs nach innen spekulierte. unverdächtige politologen wie andreas ladner sehen ähnliches am beispiel der entwicklungen bei volksabstimmung zu fragen des fremden. journalisten und experten tendieren also zur zustimmung, und kaum ein intellektueller dieses landes erhebt seine stimme, um uns vom gegenteil zu überzeugen.

heute morgen ertappte ich mich heute bei der lektüre eines meiner interviews für eine jugendzeitschrift, das nich noch vor der abstimmung gegeben hatte, wie ich den zeitgeist vor einem monat deutete: die schweiz gibt sich bei weitem nicht auf; ihr freiheitswille ist ungebrochen. ihre moderne identität ist angesichts von wirtschaftslage und gesellschaftsdiskurs in eine krise geraten. gefragt ist, was angesichts der aktuellen unsicherheit von dauerhaftem wert erscheint.

stecken wir mitten in der konservativen revolution?

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

6 Gedanken zu „mitten in der konservativen revolution?“

  1. Besser man schaut diesem Geschehen nur zu. Mir ist jedenfalls wohler dabei. In der Politik der Gegenwart könnte ich kaum eine Minute mich selbst sein. Und würde ich weinen, weil mich was verletzen täte, würde ich von der SVP und anderen noch ausgelacht.

  2. Zudem finde ich, dass sich die Blocher-Welt vor allem durch einen Mangel an innerem Reichtum auszeichnet. Zwar empfinde ich das oft auch in der Sprache der SP-Hardcore-Gewerkschaftler.

  3. Auch viele SP-Exponenten reduzieren alles in der Politik aufs Portemonnaie. Viele spricht das so nicht an, sie vermissen irgendwie eine innerweltliche Dimension. Wie viel Geld man hat, ist eine Sache, aber es ist ja eben nicht alles. Zumindest in der Schweiz stirbt man kaum am Hungertod. Eher innerlich durch die emotionale und geistige Öde, die manche verbreiten im grossen Stil.

  4. Die SVP versteht es blendend das Schweizer Volk mit Themen zu beschäftigen, die das gesunde Volksempfinden aufwühlen, aber für das Land gar nichts bringen. Das würde ich nicht mehr als konservativ, sondern als reaktionär bezeichnen.Im Hintergrund lauern Themen, die die Schweiz eigentlich längst in Angriff nehmen müsste: Ihre Stellung in Europa und der globalisierten Welt. Dieses Thema wird ständig verdrängt, man beruhigt sich im Fall von Europa z.B. mit dem bilateralen Verträgen mit der EU, die aber letztendlich ein “Krampf” im Verhältnis zu den europäischen Nachbarn sind. Das heissgeliebte Militär ist auch so ein Punkt, dessen Zukunft einer dringenden Klärung bedarf. Die Schweizer Politik macht hier oft den Eindruck, dass der Kalte Krieg noch in vollem Gange ist. Die Politik der Förderung der Atomkraft wird fast kritiklos akzeptiert, obwohl die Probleme erst noch kommen. Man erinnere nur an die Endlagersuche, wo man die Probleme am liebsten an die Grenze abschiebt, weil die Zahl der Protestierer dann geringer wird. Ich glaube nicht, dass ein Atommüll-Endlager in der Innerschweiz durchsetzbar wäre. Der Müll-Kanton Aargau bietet sich dafür an und falls die Bevölkerung doch langsam die Nase voll haben sollte, stopft ihr die Atomwirtschaft den Mund mit Geld zu.

    Trotz alledem, lieber Stadtwanderer, deine ruhigen und informativen Beiträge aus der Schweiz lese ich gerne und mit viel Interesse!

  5. danke, ate, ich geniesse den schnee bis zu den knieen, mit deinen beiträgen werde ich mich erst am montag beschäftigen, heute brauche ich mal ruhe!

  6. Nein, wir stecken nicht mitten in einer konservativen Revolution (aber man kann diese Herbeireden).

    Wir stecken sehr wohl in einer Krise, aber das ist wohl weniger mit dem Wunsch verbunden, das Rad der Zeit beispielsweise um 100 Jahre zurückzudrehen “als noch alles besser war”…

    Mir fällt bei den heutigen Problemen immer wieder das Sprichwort ein: Der Krug geht zum Brunnen bis er bricht. Nehmen wir das Beispiel der Boni und der Kaderlöhne. Oder der Steuerprivilegien für so genannt Reiche. Da platzt einigen “Normalbürgern” der Kragen – oder eben der Krug bricht.

    Daneben gibt es auch noch “dramatisierten” Probleme, solche, welche geradezu kultiviert, aber nicht so dramatisch sind, wie sie dargestellt werden. Sie führen ebenfalls zum Kragen-platzen.

    Beides weckt dann den Ruf, zum Alten und Bewährten zurückkehren zu wollen. Wieder dahin zu gelangen, was gut und richtig war, würde ich nicht als konservative Revolution bezeichnen. Es ist eher eine Rückkehr zur Vernunft und ein Sich-abwenden von Exzessen. Das schliesst die Politik übrigens mit ein…

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