konsens-, diskurs- und streitkultur in der schweiz

gestern nachmittag: stadtwanderung mit einer gruppe aus den vereinigten staaten. allesamt spezialistInnen der direkten demokratie. eine gute gelegenheit, über eigenarten unserer politkultur, ihre veränderungen und den stand der entwicklung nachzudenken.

400000000000000129687_s4in meiner einleitung vor dem hotel bern, dem arbeitswohnsitz unserer momentan viel gefragten aussenministerin micheline calmy-rey, komme ich auf den niederländisch-amerikanischen politikwissenschafter arend lijphart zu sprechen, bis 2001 professor an der university of california in san diego.

sofort sind meine zuhörerinnen bei der sache, denn für mehrere ist der name ein begriff. lijphart hat zahlreiche demokratien der gegenwart untersucht, sie miteinander verglichen, und dann eine neue typologie mit gemeinsamkeiten und unterschieden entwickelt.

pattern of democracies” heisst sein hauptwerk. demokratie-muster könnte man es übersetzen. mit diesem ansatz gelingt es, die angelsächsisch dominierte demokratiedefinition zu überwinden. demnach sind die britische oder amerikanische demokratien nicht mehr die normalfälle für parlamentarische oder präsidentielle politische systeme, vielmehr erscheinen sie als spezialfälle unter den 36 untersuchten fallbeispielen.

beiden gemeinsam ist, dass sie stark auf dem parteienwettbewerb aufbauen. in grossbritannien ist vor allem die übergeordnete staatsebene entscheidend, während in den vereinigten staaten das förderalistische staatsgefüge als ganzes massgeblich ist.

die kennzeichnen der schweiz sieht lijphart ziemlich anders:

erstens, (gemeinsam mit der usa) kennt die schweiz ein ausgeprägtes föderalismusverständnis,
zweitens, (anders als gb und den usa) ist in der schweiz der exekutive bereich entscheidend, wobei die stabilere verwaltung fast wichtiger ist als die variablere regierung,
drittens, (anders als in gb und den usa) leitet sich die politische kultur nicht aus dem wettbewerbsgedanken, sondern aus jedem der kooperation ab, und
viertens; (anders vor allem als gb) kennt die schweiz das ausgebauteste system der direktdemokratischen mitsprache bei politischen entscheidungen.

adrian vatter, politologie-professor in bern, hat die befunde lijpharts, die auf den merkmalen den 90er jahren basieren, für die jetzt-zeit untersucht. er kommt zu leicht anderen gewichtungen, vor allem im dritten, beschränkt auch im zweiten punkt. seiner meinung nach verändert sich die schweiz am stärksten weg von der konsenskultur, ohne beim gegenstück, der streitkultur schon angekommen zu sein.

meinen gästen aus kalifornien und einigen anderen bundesstaaten der usa war gerade dieser für die schweiz wichtige punkt neu. denn für sie ist klar, dass demokratien wie märkte funktionieren, wo sich verschiedene akteure mit ihren diensten anbieten, und wo der erfolg hat, der dafür käufer findet.

was sachbezogene kooperation über ideologie- und parteigrenzen hinweg ist, musste ich meinen gästen noch etwas näher bringen. von konsens spreche ich nicht mehr, aber, wie es der zürcher politphilosoph vorschlägt, von beweglichen diskursen der mitte nach rechts oder links, um in einer variablen geometrie der politischen kräfte auf die dauer mehrheitsfähig zu sein.

die guten beispiele aus der aktualität waren die ergebnisse bei den bündner regierungsratswahlen und der staatsvertrag mit den usa. im ersten fall zeigt sich, dass der konfliktstil der nationalen svp, verbunden mit amerikanisierten wahlkampagnen gar nicht gut ankam und die partei in der auf konkordanz ausgerichteten regierung aussen vor blieb. im zweiten wurde klar, dass der machtpoker ums ganze flexibilität vermissen lässt und wohl nur noch für das steht, was man streit nennen muss.

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

10 Gedanken zu „konsens-, diskurs- und streitkultur in der schweiz“

  1. Lieber Stadtwanderer,

    Ihr Sprachschrott, auch in Sachen Gender-Sprache, verhindert Kommunikation, es wäre auch sonst besser, so zu formulieren, dass man nicht nur Gleichgesinnte zu interessieren verstände. Ich war vor Wochenfrist bei der vorzüglichen Abschiedsvorlesung von Urs Altermatt und habe mittlerweile unter http://www.portal-der-erinnerung.de einen Nachruf auf den ebenfalls vor Wochenfrist noch anwesenden Roger Sablonier publiziert. Man sollte etwas mehr an die Ewigkeit denken.

    Für die sprachliche Fortbildung empfehle ich Ihnen die Schweizerische Orthographische Konferenz (SOK).

    Pirmin Meier, Historischer Autor, Beromünster

  2. erinnert mich ein wenig an meinen deutschlehrer im gymnasium. der kritisierte mich auch immer. dafür erhielt ich dann, wie mein ganzer jahrgang, offiziell ein “maturitätszeungis” – echt.

    immerhin, es scheint so, dass sie meine plattform gebührend verwenden, um für sich werbung zu machen.

    das hat wohl auch einen grund: der “stadtwanderer” ist mit mehreren 100 besucherInnen täglich einer der meist gelesenen blogs in der deutschsprachigen schweiz.

    die regelmässigen top-rangierungen der beiträge auf http://www.slug.ch/charts belegen das eindrücklich.

    und das können wohl nicht nur eingeweihte und gleichgesinnte sein.

    lesen sie mal die debatten zwischen ate, andern und mir.

    nachfrage: wie steht es mit der nutzung ihrer “lebendigen erinnerungen”?

    übrigens: ihr buch über bruder klaus habe ich ganz gerne gelesen.

    schöne zeiten mit ihren nekrologen.

    stadtwanderer

  3. Hoppla, neu und gleich heftig, Herr Meier!

    Sprachsicherheit ist sicher eine wichtige Voraussetzung der Kommunikation. Da haben sie vollständig recht.
    Seit der letzten Sprachreform, ausgerechnet durch den Duden und die ganzen Grammatik-Profs ausgelöst, ist die Sicherheit der Sprache jedoch nicht gestiegen, sondern eindeutig gesunken.

    Das zeigt mir auch, dass keine Sprache für die Ewigkeit ist.

  4. @ Primin Meier: Kritik zu äussern ist in Ordnung, besonders dann, wenn diese qualifziert ist und die Betroffenen weiterbringt. Gerade dem von Ihnen – meiner Ansicht nach völlig unberechtigten und auch unbegründeten – erhobenen Vorwurf “Sprachschrott” fallen Sie selber zum Opfer, allein schon durch die Verwendung dieses Begriffs.
    Und auch den Vorwurf, der Stadtwanderer vermöge nur Gleichgesinnte zu interessieren, widerlegen Sie ja gleich selber. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie hier nicht unbedingt zur Diskussion beitragen wollen, sondern vielmehr auf sich aufmerksam zu machen versuchen. Ich erlaube mir in diesem Fall, auf Empfehlungen für Verbesserung zu verzichten.

  5. Wenn man eine differenzierte Themenvielfalt zu schätzen weiss, spricht doch nichts gegen eine Gleichgesinnung.
    Pirmin Meier will Dir vermutlich flüstern, dass Du auf höherem Niveau schreiben solltest, damit auch er sich angesprochen fühlt.
    Ich lese aber lieber einen Beitrag mit zwischendurch kleinen Schreibfehlern, der aber inhaltlich etwas hergiebt, als eine fehlerfreie, trockene Abhandlung die mich denn eher zum Gähnen bringt.

    Der Neid wird es wohl sein. Der Neid darauf, dass Du menschlich und für uns alle zugänglich bist und mit Deiner sympathischen Art uns zu informieren und zu unterhalten verstehst.

    Es grüsst die sehr rechts denkende Ate, was ja heisst, dass wir nicht alle gleich sinnen, äh, Gleichgesinnte sind.

  6. herzlichen dank, meine lieben, für all eure kommentare und aufmunterungen.
    sie haben mit gefreut. die kritik gestern hat mich nämlich ein wenig getroffen.

    vor allem wegen dem vorwurf des insidergeschreibsel.

    beim resten gebe ich zu, wenn ich eine idee habe, will ich von der berichten, und das nachlesen, korrigieren, erwägen, umschreiben ist dann nicht so meine sache.

    manchmal mach ich das mit ein paar stunden distanz. manchmal auch nicht.

    so sind meine texte sicher nicht so geschwungen, wie das andere können, aber auch nicht so gestelzt, wie das bisweilen daherkommt.

    dafür versuche ich treffend zu sein. das trifft dann halt bisweilen auch personen.

    nüd verunguet!

    sw.

  7. Eigentlich mehr denn fragwürdig, dass sich ein Mensch, in diesem Fall Pirmin Meier, rausnimmt Deine Schreibweise als Kommunikationsverhinderung zu verurteilen, er aber nun, nach diesen bei Dir eingetroffenen Kommentaren nicht mal fähig ist, sich zu diesen Kommentaren zu äussern.

    Kommuniziert dieser Herr nur auf höherem Niveau? Ist ihm die Natürlichkeit der allgemeinen Menschheit entglitten?

    Gottlob haben Dich, lieber Stadtwanderer Deine Titel Dich nicht abheben lassen. Gottlob bist Du zugänglich und menschlich geblieben. Tja, Vereinzelte denken halt, sie seinen etwas “mehr Besseres”, aber kein Studium, keine Ausbildung kann das Menschliche, das Wichtigste dass der Mensch besitzt, ersetzen.

  8. @ate hier sprichst du ein wahres wort und triffst den kern der sache! Danke dafür. für mich ist das menschliche auch etwas vom allerwichtigsten und beinhaltet eben auch den respekt vor dem gegenüber/mitmenschen.

  9. Die Diskussion war für mich anregend. Sauer reagiere ich jedoch im allgemeinen auf Texte, welche zum Beispiel mit dem sog. Binnen-I geschrieben sind, sowie generell z.B. auf Sprachregelungen, wie sie neulich in Bern erlassen und auch vom LU-Gleichstellungsbüro promulgiert wurden. Solche Texte erreichen mich in der Regel nicht, der Stadtwanderer hat mich aber im übrigen, wie die Diskussion beweist, durchaus erreicht. Der Tod des in Fribourg noch anwesenden Sablonier war im übrigen, wenige Stunden nach der Ehrung von Altermatt, wirklich denkwürdig. Danke.

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