fast ganz ruhig (värmlands nyheter 1)

städter, genauso wie städterinnen, kennen das wort ruhe nur noch vom hören sagen. das ändert sich im wald schlagartig. mit überraschungen.

der vorherrschende lebenseindruck in der stadt ist der lärm. allen voran machen fahrzeuge lärm. die vorbeibrausenden autos überall, startende töffs in engen gassen, quitschende züge im bahnhof bern, wenn sie halten. der der maschienenlärm ist seit dem industriezeitalter das urbane grundgeräusch.
und fällt es einmal aus, kommen die menschen an die reihe. kinder, die sich schreiend wehren, junge, die sich laut unterhalten, ja selbst erwachsene, die gruppen unterwegs sind, erzeugen einen erheblichen pegel an geräuschen. ich behaupte, in einer stadt kann man keine 10 minuten sein, ohne dass man einen menschen zu hören.

im hohen norden angekommen, fällt einem das alles wie schuppen von den haaren. den das rurale grundgefühl ist die ruhe. klar, in den schwedischen wäldern gibt es scheppernde holzlastwagen – wenn’s hoch kommt zwei im tag. es gibt auch passantInnen, die zum fischen am nahe gelegenen see kommen, oder einige würste brättel wollen, geschützt von einer fischerhütte. doch auch die lassen sich je tag an einer hand abzählen.
die nachbarn selber leben beileibe nicht so nahe wie in einer stadt. die streusiedlungen selbst in dörfern garantieren, dass man sie sehen, aber nicht hören kann!

so ist man dem glück der ruhe in holzhausen ganz nahe.

doch es bleibt auch hier nicht einfach still. denn das ohr entdeckt, einmal befreit vom lärm, neue geräusche: die kreischende möve, die hoch oben über den bäumen segelt und hunger hat. die warnenden schwalben, die kollektiv eindringliche abhalten. und der specht, der seine würmer heraussucht, begegnen einem als erste. danach kommt das rascheln einer schlange, das schnappen eines fisches, das summen einer hummel.

ruhe ist also relativ. ganz ruhig wird es wohl nie. im vergleich zum bekannten lärmpegel ist es aber in der pampa schwedens aber kolossal ruhig.

(sodass man selbst den weichen widerstand der tastatur beim schreiben hört.)

stadtwanderer

unterwegs sein, heisst frei sein

“eine kleine philosophie des gehens”, heisst das buch, das ich gerade lese. geschrieben hat es frédéric gros, philosophieprofessor an verschiedenen pariser universitäten. seine spezialität: unterwegs philosophieren. ihm folge ich ein stück des weges, den ich gerade gehe.

unterwegsfreiheit ist eines der zentralen kapitel im handlichen buch, das gros auf 250 seiten ausbreiet. freiheit wird hier dreifach definiert: als loslösen, als aussteigen und als verzicht.

das gefühl loszulassen, kennen wohl die meisten. zum beispiel all jene, die, wie ich, über mittag spazieren gehen, um sich von der arbeit zu lösen, sich von schreibgeräten zu entfernen. auch wenn sie ausgesprochen nützlich sein mögen, sie kommen einem auch nah. denn sie nehmen einen mehr in beschlag als ein einfaches instrument, ein hammer beispielsweise. sie haben die eigenschaft, sich mit uns zu verbinden, ein teil des eigenen selbst zu werden. und sie stehen gerade zu sinnbildlich für die zwänge, die mit dem arbeiten verbunden sein können: die termine, die verpflichtungen, der erwartete input, der zum erhofften output führen soll.

wer vorübergehend loslässt, kennt die Vorteile des unterwegs seins. er oder sie hat auch die nachteile der reisenden nicht: das schwere gepäck, das man meist transportiert, aber auch die handtasche fällt weg, die das unmittelbare überleben an einem fremden ort sichern soll. denn wer einfach unterwegs ist, verfolgt kein festes ziel, ganz anders als reisende, die den ort der ankunft kennen, die distanz hierzu auswendig wissen und die vorher berechnete zeit der anreise sorgfältig kontrollieren.

der ausstieg, sagt philosoph gros, ist radikaler, denn er komme einem bruch gleich: man lässt einen ganz bestimmten ort ganz bewusst hinter sich. wer aussteigt, sucht das andere, das unbekannt, chaotische. es ist die wildnis, die man sucht, auch die energie, die einem von neuem stärken soll freiheit ist hier, an der nächsten kreuzung wählen zu können, ohne zu wissen, was kommt. weder hier durch, noch da durch. es braucht ein (über)mass an mut, um diese freiheit zu ergreifen. riskiert wird dabei ein (über)mass an müdigkeit, denn der weg, der einem ausbrecher bevorsteht, ist nicht kalkulierbar. eine neue identität kann so entstehen, aber auch der Sturz ins bodenlose.

wenn ich im sommer in den norden gehe, ist es jeweils mehr als (der versuch) loszulassen; es ist aber auch weniger als ein ausstieg. sicher, in schweden kenne ich aussteiger, die weg gingen, ohne zu wissen, ob sie oder ihre kinder je zurückkehren würden. natürlich kennen wir auch loslasser, die für ein paar tage kommen und dann auch gehen. einen monat weg zu sein, ist irgend etwas zwischen dem, was der philosoph uns “vorschreibt”. freiheit, würde ich meinen, ist es dennoch – die freiheit nämlich, frei von den vielen kontrollen, die einen in der dicht besiedelten schweiz umgeben, neu zu finden, ohne dass die gewonnene freiheit zur ganz grossen herausforderung wird, die alles bisherige in frage stellen würde.

in einem hat der alltagsphilosoph aus paris auf jeden fall recht: ein dauernder verzicht im philosophischen sinne ist das leben in den wäldern nicht. denn wenn der franzose gros vom verzicht redet, erinnert das ein wenig an hinduistische lebensweisheiten. der morgen des lebens ist mit dem lernen vom meister besetzt; der mittag wird durch den erwerb von einkommen und ansehen bestimmt; am nachmittag wird man zum eremiten, der im wald meditieren lernt. ganz am schluss, am abend, werde der lebenswanderer man zum Pilger, sagt gros. denn der weise verzichtet, wird zum namenlosen selbst, das im grossen herz der welt seinen ausgang sucht.

unser eremit in holzhausen ist dieses jahr zum ersten mal nicht dabei. schade. im kampf gegen einen dachs hat er sich aergerlich verletzt, sodass er operiert werden musste. ein vorbild ist er dennoch, seit jahren bewohnt er entbehrungsreich den wald, jedenfalls in den sommermonaten, und lebt abseits vom geschäftigen treiben, das wiederum uns die meiste zeit beherrscht. ob er je zum pilger wird, ist gegenwärtig offen, denn das gehen bereitet ihm mühe.

wandern, schliesse ich, ist also mehr als nur gehen. es ist loslassen, es kann zum aussteigen werden, ja zum eigentlichen sinn des lebens.

stadtwanderer.
(beim weiterlesen)