Die Berner Bären (Eröffnungsrede meiner nächsten Stadtwanderung)

“Meine Damen und Herren, werte Gäste aus Südbaden!

Ich begrüsse sie. Zwei stunden wollen wir gemeinsam verbringen. In dieser kurzen Zeit will ich hnen Geschichte und Politik der Schweiz am Beispiel der Stadt Bern näher bringen.

Der neue Bärenpark
Wir starten hier beim Bärenpark. Früher hiess er Bärengraben. Die Bären waren in diesem Loch. Doch das entspricht nicht mehr den Auffassungen der artgerechten Tierhaltung, weshalb unsere vier Bären einen eigenen Park erhalten haben. Die Eltern heissen Finn und Björk, ihre Kinder sind Urs und Berna. Bei Urs täuschte man sich allerdings; er war kein Männchen, sondern ein Weibchen. Deshalb nennen wir sie heute Ursina.
In keiner mir bekannten Stadt ist die Symbiose zwischen Mensch und Tier grösser als in Bern. Seit genau 500 Jahren gibt es die Bären ununterbrochen in der Stadt. Damals, als sie hierher gebracht wurden, waren sie eine Kriegstrophäe, welche die Berner Offiziere als Zeichen der militärischen Macht mitbrachten. Seither sind die Bären hier populär geworden. Sie entzücken die TouristInnen; wir alle nehmen Anteil an ihrem Leben, wenn es ihnen gut oder schlecht geht. Und mit Stolz führen wir BernerInnen die Bären auch in unserem Wappen.

Legenden zum Bären in Bern
Der Legende nach haben Bern und Bär den gleichen Wortstamm. In unserem Dialekt ist das noch offensichtlicher als im Standarddeutsch. Denn wir schreiben Brn mit Vorliebe mit einem „ä“. Die Legendenbildung geht zurück auf die Ueberlieferung der Stadtgründung im Jahre 1191. Herzog Berchtold V. von Zähringen hiess seine Mannen, ein Tier im Wald zu erledigen. Das erste, das man töten würde, solle dem Ort den Namen geben. Da stiessen die Dienstmannen des Herrn auf einen Bären, den sie gefangen nahmen und erlegten. Seither ist Bern Bärn, und wir danken es den Jägern, dass sie nicht als erstes ein Eichhörnchen erledigt haben.
Doch auch die germanische Mythologie könnte die Verbindung von Bern und Bär gegründet haben. Gemäss dieser Tradition entstehen aus der Vereinigung eines Bären mit einem Menschen ein neues Volk – zum Beispiel das Bärnervolk. Seit 823 Jahren nennt man die Leute, die hier leben, so. Im 16. Jahrhundert wurde es üblich, von der Republic bernensis, der Berner Republik, zu sprechen. 1803 kamen sie zum neu begründeten Kanton Bern, 1848 zur Schweizerischen Eidgenossenschaft. Seit 1834 sind Stadt und Kanton getrennt, denn vorher gehörte rechtlich alles zur Stadt, nur waren die einen Vornehme, Patrizier genannt, allenfalls Gewerbetreibende oder Hintersassen und damit Gewöhnliche, oder sie waren Bauern, lebten auf dem Land und waren Untertanen der Gnädigen Herren. Im 16. Jahrhundert reichten deren Ländereien bis vor die Tore Genfs und bis Brugg im Wasserschloss, wo Aare, Reuss und Limmat zusammen fliessen. Die grösste Stadtrepublik nördlich der Alpen, quasi das Pendant zu Venedig, war man damals.

Die liberale und soziale Wende
Die 1830er Jahre sind eine der wichtigen Wenden in der Stadtgeschichte. Unser Stadtadel, das Patriziat, dankte ab, verzichtete auf die Jahrhunderte währenden politischen Vorrechte, liess er Demokratie zu, behielt er aber grosse Teile des Vermögens und wirtschaftlichen Einfluss bis in die heutige Zeit. Politisch begann damals der Aufstieg der Bürger. Sie bildeten aus den Dörfern rund herum Gemeinden, die sie der Metropole und den Städten rund herum gleich stellten. Damals war das Land progressiver, die Stadt blieb konservativ, eingeigelt durch die ehemaligen Untergegebenen.
Von diesem Schock hat sich die Stadt bis heute nicht ganz erholt, auch wenn sie politisch längst mit der Tradition des Ancien Régimes gebrochen hat. Denn seit den 50er Jahren des 20. Jahrunderts wird Bern mit einem Unterbruch von einer Mehrheit linksgrüner PolitikerInnen regiert, die gemässigte Bürgerliche auf FDP und CVP als Minderheit in der Stadtregierung aufnehmen. Das ist unsere Form der kleinen Konkordanz, der Zusammenarbeit aller unter Ausschluss der SVP. Die Berner WählerInnen quittieren das mit grosser Regelmässigkeit. Auch unser Stadtpräsident, Alexander Tschäppät, seit vielen Jahren der unbesiegbarer Meister dieses Ortes, ist ein leutseliger Roter.

Bern – die Bundesstadt
Seit Gründung des Bundesstaates über den 22 Kantonen, die seit 1815 auf Geheiss des Wiener Kongresses die Eidgenossenschaft bilden, ist Bern die Bundesstadt. Zu gerne wäre 1848 Rivalin Zürich Hauptstadt der Schweiz geworden. Doch eine Allianz aus Westschweiz und Ostschweiz bevorzugte Bern wegen seiner Bedeutung als Brückenstadt und liess Zürich aussen vor. Typisch für die schweizerische Kompromissfreudigkeit ist allerdings, das man im Gegenzug auf eine eigentliche Hauptstadt verzichtete, und so ist Bern bis heute Sitz von Regierung und Parlament, einem grossen Teil der Bundesverwaltung, während das Bundesgericht ins französischsprachigen Lausanne kam, und Zürich das Polytechnikum, die heutige ETH, erhielt.
Jonas Furrer, unseren ersten Regierungspräsidenten kennen die meisten Leute nicht mehr. Das hat Programm: Keine überragenden Politiker und kein überragendes Zentrum soll das Land haben. So sind wir seit langem plurikulturell, förderalistisch und direktdemokratisch, und wir achten darauf, uns politisch ausgewogen und wirktschaftlich dezentral zu entwickeln. So nennen wir Städte mit 100000 EinwohnerInnen Grossstädte; fünf haben wir davon: Zürich, Genf, Basel, Bern und Lausanne. Es folgen einige Mittelstädte mit mindestens 50000 BewohnerInnen. Und wer es auf 10000 bringt, darf nach schweizerischem Recht den Titel einer Stadt tragen. Alles andere sind Dörfer – von denen es knapp 3000 gibt.

Die Schweizer Eidgenossenschaft und ihre Nachbarn
Heute zählt die Schweiz nicht mehr 22, sondern 23 Kantone – nicht weil wir der Tradition folgend weitere Gebiete erobert hätten. Vielmehr wurde der Kanton Jura, dessen Gebiet 1815 dem Kanton Bern zugeschlagen wurde, 1978 in die Unabhängigkeit entlassen und bildet seither den jüngsten Gliedstaat der Schweiz. Ausgerechnet aus diesem Kanton kam vor knapp drei Jahren die (Schaps)Idee, die Schweiz territorial doch zu erweitern. Ein jurassischer Politiker aus den Reihen unserer konservativen Schweizerischen Volkspartei forderte, die umliegenden Gebiete zum Austritt aus der EU und dem Beitritt zur Schweizerischen Eidgenossenschaft aufzumuntern, um die freiheitsliebenden Kräfte in Europa zu stärken. Gerne aufgenommen hätte er die Lombardei, Savoyen, die Franche-Comte, Baden-Württemberg und Vorarlberg. In der Schweizer Oeffentlichkeit blieben die Reaktionen geteilt, und die offizielle Schweiz nahm die grosse Eingemeindungsidee nicht auf. Denn wir wissen zu gut, dass der Wiener Kongress 1815 wesentliche Fundamente der Schweiz festgeschrieben hat: so die Souveränität der Kantone, so die Neutralitätspolitik des Bundes und so die Grenzen der Eidgenossenschaft. Daran rütteln zu wollen, wäre für die Schweiz mindestens so gefährlich wie verlockend, denn es könnte das ganze Gefüge der fragile staatlichen Unabhängigkeit ins Wanken bringen: 2001 entschieden wir in einer Volksabstimmung, nicht Mitglied der EU zu werden. Seit 2000 haben wir, ebenfalls als Folge einer Volksabstimmung, vertraglich geregelte bilaterale Beziehungen mit Brüssel und allen Mitgliedstaaten. Das war unsere Antwort auf den 1992 erneut in einer Volksabstimmung abgelehnten Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum. Genau das möchte die EU heute am liebsten rückgängig machen. 2010 erklärte sie den Bilateralen Weg mit der Schweiz in Europa zur Sackgasse, und seither ringen wir, begleitet von heftigen Steuerstreitigkeiten insbesondere mit Deutschland, Frankreich und Italien, um ein neues Verhältnis zur EU, die uns ganz umgibt.

Stadtwandern in der Einstein’schen Raumzeit
Ein Teil dieses neuen Verhältnisses allerdings jenseits der ganz grossen Politik, dafür nahe bei Geschichte und Kultur, beim Volk und bei den Institutionen, beim Glück und Pech der BernerInnen, ist die heutige Stadtwanderung mit Ihnen, meine Damen und Herren. Lassen sie mich nach dem kleinen warm-up nun loslegen, folgen sie mir auf dem Weg der Schweiz mit 8 Stationen, die stets einen Ort mit einer Begebenheit verbinden, sodass sie sie am Schluss Zeit und Raum erwandert haben.
A propos Raumzeit: Der Begriff stammt von Albert Einstein, 1879 als württembergischer Staatsangehöriger in Ulm geboren, der 1902 nach Bern kam und hier als eidgenössischer Beamter im Patentamt arbeitete und Schweizer wurde. Was er patentiert hat, ist heute in Vergessenheit geraten. Was er aber in den Musestunden seiner Arbeitszeit verfasst hat, gilt heute noch als moderne Physik. 1905 verfasste er in Bern die spezielle Relativitätstheorie, am besten bekannt durch die Formel E=mc2, wonach Energie und Masse äquivalent seien, verbunden durch die quadrierte Lichtgeschwindigkeit. Fünf Abhandlungen legte Genie Einstein damals auf den Tisch, die er allesamt in Bern verfasst hatte; für eine davon, den photoelektrischen Effekt behandelnd, erhielt er 1922 den Nobelpreis, der seinen Weltruf als Forscher begründete, den das Time Magazin an der Milleuniumswende mit dem Titel „The Man of the Twenty Century“ krönte.
Eine kleine Gemeinsamkeit habe ich mit Albert. Wir beide haben am 14. März Geburtstag. Ich bin allerdings 78 Jahren nach ihm auf die Welt gekommen. Immerhin, wir beide haben in Aarau das Gymnasium besucht, und sind nach dem Studium nach Bern gekommen. Und auch ich wollte ursprünglich Physiker werden, um auf den Mond fliegen zu können. Statt meine Jugendträume zu realisieren, habe ich aber Geschichte studiert, und war ich einige Jahre als Politikwissenschafter an der hiesigen Uni angestellt. In Bern arbeite ich seit 1992 als selbständiger Politunternehmer, habe ein eigenes, privates Forschungsinstitut für politische Analysen, mache unter anderem Wahl- und Abstimmungsuntersuchungen für die Medien der SRG, und bin ich seit 2008 an den Universitäten St. Gallen, Zürich und Bern als Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft tätig. In meinem Berufsleben trage ich normaler eine Fliege, mein Markenzeichen, doch ohne bin ich freier, freier Stadtwanderer von Bern.
Kommen Sie mit auf meine heutige Wanderung!”

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