das politische system der konkordanz im schweizerischen bundesstaat

kein wort aus der schweizer politik hat heute so konjunktur wie konkordanz. gleichzeitig wird kein wort so unterschiedlich verwendet wie dieses. beides ist zweifelsfrei ein zeichen der krise. eine historisierende übersicht der diagnosen aus der politikwissenschaft.

nicht das einzige szenario, immer mehr jedoch das wahrscheinlichste für die bundesratswahlen vom kommenden mittwoch: status quo zur sicherung von stabilität und kontinuität, um den preis einer weiteren schwächung der regierungskonkordanz.

wenn politologInnen konkordanz verhandeln, sprechen sie meist vom konkordanzsystem – und setzen dieses dem konkurrenzsystem gegenüber. dieses basiert auf dem wettbewerbsgedanken der grossen demokratien, insbesondere im angelsächsischen raum; jenes geht vom einvernehmen aus, das namentlich in kleingesellschaften existiert, gelegentlich auch während krisenlagen in grossgesellschaften zu anwendung kommt. ziel der konkordanz ist es, machtkämpfe in der politik, insbesondere bei der regierungsbildung zu vermeiden, aus prinzip oder aus einen gleichgewicht der kräfte heraus, um ein maximum an energie mobilisieren zu können und sie in die lösung vorrangiger probleme zu stecken.

die ursprünge der konkordanz im schweizerischen politischen system sind vielfälig. schauen wir uns einmal die bedrohungslage im zweiten weltkrieg an. die wahldemokratie war eingeschränkt, das parlament im wesentlichen auf eine vollmachtenkommission beschränkt und die regierung war überparteilich. 1943 berücksichtigte die bürgerlich geprägte bundesversammlung erstmals einen sozialdemokraten für den bundesrat. das kann man die frühe geburtsstunde der parteipolitischen konkordanz nennen, denn die gegner aus der klassenkampfzeit nach dem ersten weltkrieg sassen nun in der gleichen regierung. stabil war dieses system noch nicht, denn die mehrheitsverhältnisse bleiben sich im wesentlichen gleich. das änderte erst 1959 mit der einführung des zauberformel, mit der auch der gedanke der proportionalität der sitzverteilung etabliert wurde. die drei grössten parteien, alle mit deutlich mehr als 20 prozent wähleranteil ausgestattet, bekamen zwei sitze, die viertgrösste partei, bei 10 prozent, einen. damit waren mehr als 70 prozent der wählerInnen im bundesrat mitvertreten. das sicherte regierungsentscheidungen im parlament ab. es ist evident: mit den veränderungen bei den wahlen seit den 90er jahren passen formel und parteien im hergebrachten sinne nicht mehr zusammen.
ein zweiter grund für die regierungskonkordanz ist damit verbunden. ursache ist das system der volksrechte. denn mit volksinitiativen und referendum, im letzten viertel des 19. jahrhunderts eingeführt, wurde das stimmvolk zur opposition; selten aus prinzip, abwechslungsweise häufig aber gegen eine vorlage des parlamentes oder eine politik des der behörden. dafür wurde katholisch-konservative oppositionspartei in die regierung inkorporiert. zwar sind volksrechte und ein regierungs-/oppositionssystem nicht an sich unvereinbar; ihre koexistenz ist aber komplex. das ist namentlich dann der fall, wenn minderheitsparteien in der regierung volksinitiativen lancieren, aber auch wenn sie mit dem referendum gegen parlamentsentscheidungen drohen, in denen sie unterliegen könnten. von einer regierungspartei erwartete man, dass sie auf auf initiativen und referenden verzichte, dafür ihre zugänge zur willensbildung der regierung benutze, um die eigenen ansichten durchzusetzen. auch hier ist es evident: die mässigende wirkung der regierungsbeteiligung auf den gebrauch der volksrechte ist weitgehend weg. sp und svp greifen regelmässig zu diesem druckmittel, und selbst die fdp und cvp laborieren damit.

zum konkordanzsystem ist nicht freiwillig gekommen. 1848 war die schweiz eine parlamentarisches system, eine repräsentative mit freisnninner vorherrschaft. der elektorale niedergang der fdp ist denn auch der anfang der dritten ursachekette. insbesondere mit dem übergang von der majorz- zur proporzwahl 1919 sackte die fdp auf eine grosse, aber nicht mehr mehrheitsfähige partei zusammen. von da an war sie auf kooperation mit früheren oder kommenden gegnerinnen angewiesen: mit der bgb (der heutigen svp) und mit der kk (der heutigen cvp). ihre so verbliebene, gekappte führungsrolle verlor sie erst 1959, als die kk mit der sp – und gegen fdp und svp – die neue regierungszusammensetzung durchpaukten. diese brachte die kk in die position der scharnierpartei, denn nun konnte sie mit der sp eine neuartige mehrheit bilden, aber auch mit der fdp die bekannte art des regierens anstreben. der elektorale niedergang der cvp seit den 80er jahren setzte dem ein ende. denn mit dem aufstieg der svp in den parlamentswahlen gelang es ihr 2003, den schwerpunkt der regierung wieder rechts der mitte zu setzen.

betrachtet man den stand der konkordanz heute, sind die analysen zwar nicht einheitlich, kommen sie aber zu vergleichbaren schlüssen: übersichten des berner politikwissenschafters adrian vatter, der die demokratie-analyse seine niederländisch-amerikanischen kollegen arend lijphart konkretisierte, zeigen, dass die institutionellen voraussetzungen des schweizerischen politsystems, insbesondere der förderalismus und die direkte demokratie, für die notwendigkeit der konkordanz sprechen. die schweiz sieht er nicht mehr gerade als paradigmatischen fall für das konkordanzmodell, immerhin noch recht weit entfernt von einem wettbewerbsmodell nach angelsächsischem verständnis.
die werke von urs altermatt, dem bundesratshistoriker par exellence, legen nahe, dass die übertragung des konkordanz prinzips auf die regierungsbildung namentlich zwischen 1959 und 2003 für stabilität der regierung, flexibilität in der repräsentation und produktivität in den entscheidungen gesorgt haben.
der freiburger historiker altermatt, cvp-nahe und damit den vätern der zauberformel verbunden, nennt regelmässig die bundesratswahl von 2003 den eigentlichen tabubruch. diesen sieht er in der erzwungenen abwahl von regierungsmitgliedern. mit veränderten vorzeichen wiederholte sich dies 2007, wobei diesmal die parteipolitischen zusammensetzung nicht angetastet wurde, ein bisheriges regierungsmitglied aber durch ein neues aus der gleichen partei von der bundesversammlung ersetzt wurde.

wir wissen es, letzteres hat eine neuerungen im parteiensystem ausgelöst, welche die jüngsten parlamentswahlen geprägt hat. entstanden ist die bdp als abspaltung von der svp, zunächst vor allem von politikerInnen, welche christoph blocher als svp-übervater und neuem oppositionsführer ablehnten, sich hinter die alten svp- und neuen bdp-bundesrätInnen stellten. daraus ist eine neue, bürgerliche zentrumskraft geworden, die bei den nationalratswahlen 5 prozent wählende erhielt, am meisten von der fdp, dann aber auch von der svp und sogar etwas von der sp, welche mit dem politischen filz gebrochen haben und die polarisierung der schweizer politik überwinden wollen. ihre erste grosse tat bestand darin, einen wesentlichen anstoss zur neuen mehrheit in der energiepolitik nach dem atomunfall in fukushima gegeben zu haben.
ein wesentlicher grund hierfür war, den verbleib von eveline widmer-schlumpf im bundesrat zu sichern. power ambition nennt die politikwissenschaft das. ohne zweifel erfüllen sowohl die bündner politikerin wie auch ihre partei die kriterien, die es hierfür braucht: ambition, machtbewusstsein, politisches verhalndlungsgeschickt und eine pragamtische weltsicht, die nicht von tiefschürfenden programmen, dafür vom tatendrang und optimismus geprägt sind.

mit der der anstehenden bundesratswahl am 14. dezember geht es 8 jahre nach der abwahl von ruth metzler aus dem bundesrat, 4 jahre nach dem ersatz von christoph blocher durch eveline wimder-schlumpf nicht nur um eben diese person – populär, regierungserfahren und ausgeprochen kompetent in der finanzpolitik. nein, es geht auch um die systemfrage. konnte man bisher sagen, sie sei als svp-politikerin auf einem svp-sitz gewählt worden, ändert ihre allfällige wiederwahl genau da. bleibt es beim status quo im bundesrat, ist genau das die änderung. die stabilität der personellen zusammensetzung ändert die parteipolitischen repräsentationsregeln.
kritisiert wird dies vor allem durch die svp und in ihrem gefolge durch die fdp. man sieht darin einen verstoss gegen die artihmetische konkordanz, der ihrer meinung nach einzig gültigen definition. sie würden am liebsten zurück zur zusammensetzung von 2003 mit einer mehrheit für die rechte. machte das vor acht jahren à la limit noch sinn, wirkt nach den jüngsten parlamentswahlen leicht grotesk. gestärkt wurden so die aktuellen verliererkräfte, die von einer mehrheit in beiden parlamentskammern weit weg sind. als kompromis bietet sich an, die svp als grösste regierungspartei tatsächlich zu bedienen, dies aber zulasten der fdp, für die wohl johann schneider-ammann aus der regierung scheiden müsste. das wäre arithmetischer, aber nicht schöner, denn es wäre mit einer weiteren machtdemonstration gegen eine partei und eine person verbunden.
es bleibt eigentlich die aussicht, dass die schweiz am kommenden mittwoch, systemisch gesprochen, nur zwischen wenig mangelhaften modellen wählen kann, die alle einen fehler haben: eine 5-prozent-partei in den bundesat zu hieven, eine regierungsmehrheit ohne entsprechende parlamentsabstüzung etablieren wollen oder eine weitere abwahl eines regierungsmitgliedes in kauf zu nehmen.
die lage ist vertrackt. denn die konkordanz nimmt nächst woche weiteren schaden. da überzeugt das argument der sicherung der regierungsfähigkeit noch am meisten, indem man das jetzige, amtsjunge team auf der bestehenden personellen basis ausnahmeslos sichert und die aussicht offen lässt, die svp zu einem späteren zeitpunkt, in kenntnis ihrer weiteren entwicklung, allenfalls auch der trends in der wählerschaft zu lasten einer anderen partei zu stärken, die im bundesrat überrepräsentiert ist.

oder mit einem bild: das wechseln der räder am fahrenden zug ist immer mit risiken verbunden, sodass nur adhoc lösungen, die einen unfall verhindern, ratsam erscheinen!

stadtwanderer


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