die abWahl

ich habe wenig geschlafen. denn ich las das buch “abwahl” von andrea hämmerle. der zufall wollte es, dass ich dem autor heute über mittag in der stadt begegnete. das protokoll.

als hämmerle vor 20 jahren nationalrat wurde, kannte ihn niemand. seines vornamens wegen reihten ihn die parlamentsdienste beim garderobeköstchen bei den frauen ein.
heute weiss ein jeder und eine jede, dass andrea bei den bündner glatt als männlicher namen durchgeht. denn andrea hämmerle gilt landauf, landab als der verbindungsmann zwischen eidgenössischem parlament und frau eveline widmer-schlumpf, als sie nachfolgerin von christoph blocher im bundesrat wurde.

genau darüber hat hämmerle, der kleinbauer in den rängen der sp, ein buch geschrieben. die idee hatte er diesen sommer, das letzte kapitel verfasste er nach den nationalratswahlen.
vorgestern stellte der alt-nationalrat, der hämmerle jetzt ist, sein buch den medien vor – und löste eine beträchtliche aufmerksamkeit aus. heute traf ich den autor, zufällig, im berner restaurant “diagonal” beim apéro.

ob es stimme, dass er in der entscheidenden nacht vor der berühmt-berüchtigten wahl im bett lag, wollte ich als erstes von andrea wissen. jawohl, er habe sich erklätet gehabt, sogar seine stimme verloren, gibt er zur antwort. gut für ihn, dass man im parlament stumm wählt, denn sonst hätte eveline widmer-schlumpf am 12. dezember 2007 vielleicht eine der entscheidenden stimmen gefehlt, um bundesrätin zu werden. manch solchen ausfall hätte es nämlich nicht leiden mögen, denn die bündner svp-regierungsrätin erhielt im massgeblichen zweiten umgang 125 stimmen, 124 waren für das absolute mehr nötig gewesen.

hämmerle zeichnet im neuesten buch zur politschweiz die ereignisse rund um die abWahl nach. das entscheidende telefonat am samstag morgen vor der gesamterneuerung des bundesrates. so erinnert er an das vorprellen von darbelley, der sich in der sonntagspresse, offensichtlich nichts ahnend, gleich selber zum bundesratskandidaten machte; das treffen der fraktionsspitzen von sp und cvp am montag, die entscheidenden fraktionssitzungen am dienstag, in die auch die grünen eingeweiht waren, der patzer des kommunisten joseph zysjadis, der vor der wahl als einziger widmer-schlumpfs name nannte, dann die wahl selber am mittwoch morgen, und den plan b mit urs schwaller als alternative, für den fall, dass widmer-schlumpf die erfolgte wahl nicht annehmen würde.

hämmerle legt wert auf distanz zur damaligen finanzministerin seines wohnkantons. klar, man habe sich gekannt, von gemeinsamen sitzungen her, sei aber nicht befreundet gewesen. insgesamt drei mal will der verbindungsmann mit der künftigen bundesrätin in den heissen tagen telefoniert haben, und eine mail sandte er ins bündnerland. die frage, ob seine landsfrau eine allfällige wahl annehmen oder ablehnen würde, sei nie erörtert worden, schreibt hämmerle. weder habe seine gesprächspartnerin das je bestätigt, noch je dementiert.

das buch zum besten polit-krimi der letzten jahre habe er nicht als rechtfertigung verfasst – auch nicht als wiederwahlempfehlung, sagt mit urheber autor am stehtisch im berner diagonal. ein wenig aus verantwortung für das was passiert sei und noch geschehen werde, sei es aber schon geschrieben worden. immer sei es ein wendemoment in der jüngsten geschichte der schweiz gewesen, der dem akteur und autor viel bedeutet.

das merkt man den buch auch an. vielleicht hat es nichts aufregend neues darin, denn vieles wurde zu dieser wahl schon gesagt. zu vieles meint hämmerle, der sich bisher nicht wirklich zur sache geäussert hatte – auch nicht im berühmte dokumentarfilm zur abwahl. mit dem buch gleichen namens hat er das nachgeholt – in auffällig ruhigem stil, als wolle er das feuer, das damals entstand und unverändert aufflackert, löschen helfen.

das buch liesst sich in den dunkeln abendstunden mit erhellender leichtigkeit. es startet mit einem porträt über christoph blocher und den aufstieg seiner svp – zwei unschweizerischen erscheinungen in der schweizer politgeschichte. dann geht es über zur lageanalyse, welche die sp im sommer 2007 vornahm, nach der wahlniederlage aber verwarf, um mit unmittelbarer nähe zum wahltag dem höhepunkt zuzusteuern. was folgt ist eine zwischenbilanz aus eigener sicht, bei der hämmerle klar macht, die strategInnen hätten mit verdeckten karten gespielt; das sei indes nötig gewesen, weil sich die svp geweigert, der bundesversammlung die ausWahl der svp kandidaten zu überlassen. originell ist der schluss, der der stützung der these dient. denn hämmerle zeichnet in wenigen strichen die bündner parteiengeschichte seit dem ersten weltkrieg nach, die auch eine sippengeschichte der gadients, der schlumpfs und der planta-hämmerles ist, die eigenständig politisierten, bei den demokraten, der svp, der fdp und der sp, meist aus distanz, gelegentlich als zweckgemeinschaft.

andrea wird in bern nicht mehr so häufig zu sehen sein. in der geschichte der bundesratswahlen wird man um den bündner hämmerle und seinen coup vom 12. dezember 2007 nicht herum kommen – egal ob man es als weiteren verstoss gegen die konkordanz oder als anfang zu einer neuen ära der regierungsbildung in der schweiz interpretieren wird. denn das macht das buch “abwahl” auch deutlich: an diesem 12. dezember 2007 wurde nicht nur eveline widmer-schlumpf bundesrätin, vielmehr hielt eine bürgerlich-offene frau einzug in die bundesregierung, die bewegung in die schweiz, die parteienlandschaft und den bundesrat brachte, wie das zeit seit dem berühmten wendemoment zeigt.

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