mein baum. mein ärger. meine analyse.

im entscheidenden moment kannte ich ihn noch nicht. als ich seine bücher las, wurde mir klar, warum trotz vielen enttäuschungen meinen affinitäten zu ökologischen umstellungen bewahren werde. (m)eine kleine umweltgeschichte, erster teil.

buchs_agstandort meines baumes, bevor er dem autobahnzubringen weichen musste.

ronald inglehart ist ein lebender amerikanischer sozialforscher. er wirkt als professor für politikwissenschaft an der university of michigan – einem eldorado für empirische forschung.

sein erstes bekanntes buch trägt den namen “the silent revolution”, 1977 auf englisch erschienen und in unzählige sprachen übersetzt. eine der zeitgenössischen ruhigen revolutionen ist für inglehard der wertwandel im übergang von industriellen zu postindustriellen gesellschaften. postuliert wurde, dass materialistische durch postmaterialistische werthaltungen abgelöst würden.

wenn in einer gesellschaft bedürfnisse nach versorgung und sicherheit gewährleistet seien, entwickelten die menschen neue ansprüche, las ich da: solche der anerkennung und der selbstverwirklichung.

prägend sei nicht, was man habe, sondern was man nicht habe. denn danach strebe man. das gelte vor allem für das, was man in der jugendzeit nicht gehabt habe. das präge das weltbild, die werthaltungen des individuum – ein leben lang. wenn es die werte eine ganzen altersgruppe bestimme, liessen die mangelgefühle in den formativen jahren eine neue generation entstehen.

bei mir war es, was ich nicht mehr hatte: meinen baum! auf den ich als junge unzählige male geklettert war. er stand neben dem friedhof bei dem wir in buchs, aargau, wohnten.

als man beschloss, einen zubringer zur neu gebauten autobahn zu erstellen, nahm man auf gar nichts rücksicht. weder auf den friedhof, noch auf meinen baum. dieser wurde mit motorengehäul gefällt, genauso wie die grabesruhe für immer verschwand.

ich war ausser mir, zuerst wütend, dann traurig. denn mit dem baum entsorgte man auch einen teil der jugenderinnerungen. mein versteck in der astgabel, meine heimat in einsamen momenten, mein abenteurplatz, wo sich die gleichaltrigen an schulfreien nachmittagen rauften.

ich war knapp zwanzig, als man für eine volksinitiative unterschriften sammelte. in meiner erinnerung hiess das begehren “demokratie im nationalstrassenbau”. offiziell hatte die sache eine umständlicheren namen: volksinitiative «für die vermehrte Mitbestimmung der Bundesversammlung und des Schweizervolkes im Nationalstrassenbau» steht im amtsblatt. verlangt wurde, dass die politik, ja die bürgerInnen in sachen strassenplanung mehr zu sagen bekommen sollte. das wurde umgehend zu meinem programm.

an der uni hörte ich kurz danach vom wertkonflikt, der mit neuen sozialen bewegungen aufbreche. zu diesen zählte der dozent die umweltbewegungen. und ihre wichtigste analyse, die ich den soziologie-veranstaltungen kennen lernte, war die untersuchung von inglehart.

das alles machte mir mut. vielleicht war ich ja nicht der einzige, der sich innerlich empört, wenn man bäume fällt. vielleicht hatten andere in meinem alter ähnliche erlebnisse gehabt. vielleicht, so hoffte ich, seien wir viele.

inglehard zählte jüngere menschen und höhere bildungsschichten zu den vorreitern des postmaterialistischen wertwandels. er ging davon aus, sie würden immer mehr werden, wenn dank wohlstand versorgung und sicherheit für immer mehr menschen gewährleistet werden könnten. das verhiess gutes. denn es würden sich mit sicherheit immer mehr menschen finden, die auf der suche nach einem anderen leben seien.

der 26. februar 1978 brachte dann eine gewaltige ernüchterung. meine initiative, an die ich so geglaubt hatte, weil sie wenigstens nachträglich ein wenig für umweltgerechtigkeit sorgen würde, wurde an diesem sonntag versenkt. keine 39 prozent dachten so wie ich. kein kanton war dafür. im aargau war man sogar überdurchschnittlich stark dagegen.

seither weiss ich: die postmaterialistInnen sind eine fordernde minderheit, machen keine mehrheit aus. ob die postmaterialistInnen je in der mehrheit sein werden, glaube ich nicht, bezweifelt heute auch die sozialforschung.

erfolg haben sie nur, wenn sie das naturempfinden breiter kreise miteinbeziehen. zum beispiel beim schutz der hochmoore oder beim alpenquerenden verkehr.

denn die berge sind und bleiben für viele ein tabu. aus ehrfurcht, aus angst, aus freude, aus stolz. im mittelland ist davon nicht geblieben. es wächst die zivilisation in die natur hinaus. und wenn sich aktive umweltschützerInnen quer legen, ernten sie nur kopfschütteln.

mehrheit ist mehrheit, weiss ich nur zu gut. seit der lektüre der bücher von ronald inglehart weiss ich aber auch, dass ich mein leben lang aufrecht zu meiner minderheitsmeinung stehen werde.

stadtwanderer