wie 2003 die machtfrage gestellt und bisher nicht wirklich beantwortet wurde

19. oktober 2003, 19 uhr 30: in der tagesschau des schweizer fernsehens kommentiert ueli maurer, svp-präsident, den neuerlichen sieg seiner partei bei den nationalratswahlen. er forderte einen zweiten sitz für die svp – damit hatte man gerechnet. der solle durch einen vertreter der neuen svp-linie eingenommen werden – auch das hatte man erwartet. ihr einziger kandidat sei christoph blocher – da waren fast alle überrascht!

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wahlsieger 2003 unter der bundeskuppel: svp und fdp – die übersehen, dass die parlamentswahlen keinen rechtsruck, vielmehr die bisher grösste bi-polarisierung zwischen den polparteien brachten.

ich stand unmittelbar neben maurer, als er die folgenreiche ankündigung machte. der svp-präsident wirkte ausgesprochen konzentriert, ja, restlos überzeugt, zum grössten coup in seiner parteikarriere anzusetzen. kein augenzwinkern war da, das auch nur den leisesten zweifel offen liess, das er scheitern könnte.

die mediale ankündigung der verlangten sitzverschiebung schlug wie eine welle ein, denn die svp wollte nicht nur führende kraft im bundesrat werden. sie missachtete auch das verbreitete wahlverfahren, das sich mit doppelkandidaturen bei bundesratswahlen eingebürgert hatte. und sie riskierte, den bisher zugkräftigsten oppositionsführer innerhalb der partei durch integration in eine kollegialbehörde zu verlieren.

ich gebe zu: lange hatte ich das christoph blocher nicht zugetraut, denn ich rechnete mit einem identitätsverlust für ihn und seine partei. dann schwenkte ich, glaubte fest, dass er die regeln der politischen kunst beachten würde; denn als unternehmer verhielt er sich insgesamt vernünftig. heute stelle ich fest: ich habe mich zweimal getäuscht. christoph blocher blieb im wesentlichen christoph blocher; dafür blieb er jedoch nicht lange bundesrat.

angesichts der dramatischen ereignisse übersah man das effektive wahlresultat der parlamentswahlen 2003 ein wenig. die bi-polarisierung der parteienlandschaft hatte ihren höhepunkt erreicht: die svp legte 4,1 prozent zu, doch grüne und sp gewannen ähnlich viel hinzu – wenn auch nur gemeinsam. wahlverliererinnen waren die fdp, die cvp und einige der kleinparteien. und: im ständerat geschah genau gegenteiliges. die sp machte am meisten sitze vorwärts, die svp wurde hier nur kleiner sieger. bezahlt hat die rechnung in der kantonsvertretung nicht die cvp, dafür voll die fdp.

die scharfe polarität zwischen links und rechts hatte mobilisiert, wie schon lange nicht mehr, und die ansprache neuer wählerInnen durch die polparteien hatte das parteispektrum auseinanderstreben lassen. die fdp kippte, rückte vom zentrum nach mitte/rechts, und propagierte schliesslich hansruedi merz als eigenen br-kandidaten. um ihre institutionelle macht zu wahren, unterstützte sie mehrheitlich die kandidatur blochers für den bundesrat. die cvp wehrte sich, einen sitz in der landesregierung. am ende gerieten sich joseph deiss und ruth metzler hinter den kulissen in die haare, und die tage der jungen appenzellerin im bundesrat waren gezählt.

2003 wurde die machtfrage gestellt, wie es in der schweizer politik unüblich war. die veränderungen in gesellschaft, politikultur und parteiensystem legitimierten dies, wurden aber zu belastungsprobe für die konkordanz. von zauberformel mag ich seither nicht mehr sprechen, nur noch von formel. wie konsenssuche kann überhaupt nicht mehr die rede sein, nur noch von wechselnden allianzen, um eine mehrheit zu haben. ob das eine zeitgemässe anpassung des regierungssystems der schweiz ist, die zu neuer stabilität führt, oder aber nur ein zwischenschritt in einer gründlichen transformation des bundesrates und des parlaments ist, weiss ich nicht wirklich.

auch ueli maurer und seine svp, die am 19. oktober 2003 so klar kommunizierten, als sie ihre eigeninteressen im auge hatten, blieben die antwort schuldig, ob sie eine schweiz mit einer verwässerten allparteien-regierung wollen, wo nur noch wählerInnen-anteile zählen, oder eine regierungs- und oppositionssystem mit einer bürgerlichen mehrheit unter ihrer politischen führung.

stadtwanderer