das vergangene steuerparadies

es ist ein tolles weihnachtsgeschenk, das der bernische historische verein seinen mitgliedern gemacht hat. denn sie haben das neueste buch über berns geschichte erhalten, verfasst von stefan altorfer-ong, das er unter dem titel “staatsbildung ohne steuern” geschrieben hat.

178_9_AHVB_Bd86_grder werdegang des jungen historikers ist unüblich. nach dem studium an der uni bern ging er nach paris, schliesslich nach london, um sich vertieft seinen wirtschaftshistorischen studien zu widmen. seine 2007 auf englisch erschienene dissertation ist nun in modifizierter form auf deutsch auf den buchmarkt gekommen. einen surpluse-state nennt altorfer seinen jetzigen wohnsitz singapur, wo der staat keine schulden macht, sondern überschüsse erzielt. das war, so eine treffende beobachtung des autors, auch im staate bern des 18. jahrhunderts der fall.

die analytische kette, die altdorfer zur erklärung der unerwarteten sachverhalts entwickelt, ist elaboriert. am anfang aber steht ein für damalige verhältnisse grosser staat, der nach einer heftigen expansion im 15. und 16. jahrhundert abschied vom krieg als mittel der eroberung nahm. tiefe verteidigungsausgaben waren die folge, aus denen budgetüberschüsse resultierten, die staatsschulden zum verschwinden brachten, gewinnbringende investitionen begünstigten, was es erlaubte, weitgehend auf steuern zu verzichten. parallel zu diesem auch für die staaten des 18. jahrhunderts untypischen befund führt altorfer drei ergänzenden kreisläufe ein:

erstens, den milizkreislauf, mit dem die patrizier wie die untertanen ihren dienst an der gemeinschaft, den militärdienst, unentgeltlich erbrachten.
zweitens verweist altorfer aus dem investitionskreislauf, der zuerst den salzhandel beförderte und einträge brachten, dann zu reserven führten, die zuerst in london, dann in amsterdam und schliesslich über an königshöfen geldbringend angelegt wurden.
drittens kommt der analytiker auch auf den repräsentationskreislauf zu sprechen. der weitgehende verzicht auf steuern erlaubte eine spezifische form der herrschaft. die untertanen, blieben im lokal autonom, und bewaffnet. das erforderte von den landvögten rücksichtnahme, wenn sie mit gewinn nach bern zurückkehren wollten.

das material, das der junge historiker hierzu ausbreitet, ist nicht überall neu. es ist aber in vorbildlicher weise systematisch gesammelt und aufgearbeitet worden. im eben erschienen buch wird es, nach einer übersicht über die patrizische herrschaftsform in der res publica bernensis, in gut verständlicher form unter drei gesichtspunkten präsentiert: der langfristigen entwicklung der staatsfinanzen, ihrer umverteilung zur erfüllung der staatsaufgaben und ihrer anlage im ausland.

besonders wertvoll sind die gut 300 seiten zielgerichteter darstellung bernischer wirtschaftsgeschichte namentlich wegen des standpunktes des autors. wegen seiner guten quellenkenntnisse zur lokalgeschichte gelingt es ihm, vorhandene, sozialwissenschaftlich-vergleichenden vorgehensweisen zum leben zu erwecken. so spannt er den bogen zu grossen themen der geschichte der frühen neuzeit. dazu zählt, wie sich der steuerstaat herausgebildet hat. der üblichen these, dies sei via kriegsführung und bedarf zu anonymen kapitalmärkten mit aktiengesellschaften geschehen, kann er mit dem beispiel des bernischen staates gegenüberstellen: denn der staat entwickelt sich ohne steuern zu erheben und hierfür eine bürokratie zu entwickeln.

einen domänenstaat nennt altorfer bern im 18. jahrhundert ist, der im mittelalter ausgeformt wurde, sich mit der reformation aber verändert hatte. deshalb erhebt er ihn gar zum “unternehmerischen domänenstaat”, denn mit salz und finanzen ging der bernische staat im 18. jahrhundert geldbringend um – besser als dies noch bis ins 16. jahrhundert der fall war, aber weniger gut als das kolonialmächte ausserhalb der eidgenossenschaft vollbrachten. so erscheint das bern der damaligen zeit gleichzeitig als fossil wie auch als trittbrettfahrer, das seine vorteile unter veränderten geopolitischen bedingungen einzubringen wusste.

an die politische geschichtsschreibung gewohnt, liesst man die wertungen des autors an verschiedenen stellen überrascht und irritiert. denn sie könnte auch zur rechtfertig der feudalherrschaft angesehen werden. diese betriebsblindheit ist wohl jeder wirtschafts-, sicher aber jeder finanzgeschichte eigen, deren vorteil es dafür ist, die grundlage des funktionieren eines staates aufzuzeigen. und diese war patrimonial, aber weder eindeutig absolutistisch (wie spanien oder portugal) noch konstitutionell (wie ungarn oder polen), womit sie in der geschichtsschreibung als wenig beschriebener, eigener typ gelten kann.

die ironie der bernsichen geschichte im 18. jahrhundert ist allerdings, dass er erwirtschaftete überschuss als ultimo ratio für den kriegsfall galt, denn mit dem staatsschatz wollte man sich im kriegsfall wenigstens akut autark finanzieren. napoléon kriegsführung ohne staatsgeld führte dann dazu, dass gerade die staatsschätze reicher republiken wie venedig und bern zu eigentlichen kriegszielen avancierten, mit den die adeligen steuerparadiese jen- und diesseits der alpen ihr ende fanden.

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