der mittelstand ist wieder gefragt

alles spricht vom mittelstand. doch kaum jemand weiss, was das damit gemeint ist. so rede hier wenigstens von der geschichte und gegenwart des phänomens, das man damit in der schweiz in verbindung bringt.

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thomas minder, bürgerlich denkender unternehmer aus dem schaffhausischen und initiant gegen die abzocker-mentalität der banken, hat der stimmungslage des mittelstandes wieder eine stimme gegeben.

die germanische gesellschaft kannte drei stände: den adel, den klerus und die bauern. in die wurde man geboren, was stabilität garantierte. das reichte denn auch, um auch in der alten eidgenossenschaft die soziale realität zu beschreiben, auch wenn in den städten handwerker und kaufleute hinzu gekommen waren.

erst mit der industrialisierung der schweiz nach 1830 änderte sich der charakter der rural geprägten gesellschaft. in den städten wuchs die bevölkerung schneller als auf dem land. ein unternehmerisches bürgertum entstand, und mit ihm bildete sich auch eine lohnabhängige arbeiterschaft aus. beides begann, gewerbe und landwirtschaft zu bedrohen. modernisten verstanden das als unausweichliche entwicklung hin zur zweiklassengesellschaft; traditionalisten verteidigten den neu entdeckten mittelstand als schutzwall gegen kapitalisten und proletarier.

letztlich war beides überzeichnet: denn die viel beschworene gesellschaftliche mitte verschwand nicht, noch blieb sie in ihrer bisherigen form erhalten, weshalb man auch vom alten und neuen mittelstand – und verallgemeinert von mittelschicht – spricht, von den selbständigen im handwerk und bauernstand resp. den unselbständigen unter den facharbeitern, angestellten und beamten, die weder zu den reichen, noch zu den armen gehören.

der historiker albert tanner hat die entstehen und den wandel des begriffs “mittelstand” nachgezeichnet. zunächst hält er ihn für einen typisch deutsche wortschöpfung, ohne wirkliche entsprechung im französischen und italienischen. sodann beinhalte er ein bekenntnis, nämlich das fundament von staat und gesellschaft in der schweiz zu sein, ja das synonym für das volksganze zu sein. schliesslich sei er ein vielfach verwendeter politischen kampfbegriff: die gute ordnung sei daran geknüpft, dass die gruppen der gesellschaft, die weder vom internationalen geschäft, noch von staatlicher unterstützung lebten, für die stabilität der gesellschaft unentbehrlich seien. ein blick in die realität der politik in zahlreichen kantonen zeigt, wie treffend diese schilderung ist.

doch ergab sich das alles nicht gradlinig. gerade während krisenzeiten, wie jener den 30er jahren des 20. jahrhunderts, stellten sich beispielsweise der gewerbe- und der bauernverband gegen jedwelche gesellschaftliche erneuerung. vielmehr belebten sie wirtschaftsvorstellungen, die direkt an die vorindustrielle zeit mit korpationen wie zünften in den städten und zwangsvereinigung zur beweidung von alpwirtschaften anknüften. die konvervative volkspartei, aber auch die neue schweiz übersetzen das nach 1933 in die politik. damit drangen sie nicht wirklich durch, prägten aber den kriseninterventionismus der zwischenkriegszeit.

auf die national und populistische politik verzichteten die exponenten des alten mittelstandes nach dem zweiten weltkrieg. mit der anerkennung der liberalen wirtschaftsartikel 1947 kam die wende. nun befürwortete man rationalisierungen, um im ökonomischen wettbewerb bestehen zu können, und propagierte man selbsthilfe auf betriebs- und verbandsebene als zentrale ziele der mittelstandspolitik.

seit einigen jahren tobt erneut ein kampf um die richtige mittelständischen interessenpolitik. gewerbe und landwirtschaft schwanken beispielsweise zwischen sozialpolitischem antietatismus und forderungen nach protektion von branchen in der globalen wirtschaft. mittelstand wird wieder vermehrt gleichgesetzt mit gesunder mitte sowohl gegen die masslos gewordene klasse der internationalen manager, wie auch der pauperisierten, försorgeabhängigen unterschichten. und, obwohl der begriff soziologisch gesprochen immer inhaltsleerer wird, bezieht sich die politik fast schon inflationär auf ihn: parteien buhlen um den mittelstand, medien thematisieren seine ängste, und sozialforscher belegen verarmungstendenzen.

fast schon symptomatisch: der jüngste wahlkampf in der stadt zürich drehte sich um den mittelstand. im beginnenden abstimmungskampf um die steuerinitiative geht es massgeblich darum, ob die rechte mit dem steuerwettbewerb oder die linke mit dem abbau von privilegien für reiche die bessere mittelstandpolitik betreibe – und auch ich referiere nächste woche in burgdorf zum thema, was den mittelstand in der heutigen zeit umtreibe.

ich muss mir noch echt gedanken machen, wie ich mit dem gängigen, aber unscharfen begriff umgehen will …

stadtwanderer