das 20. jahrhundert bereisen

statt ein fachbuch zu schreiben, wie es für einen historiker üblich wäre, riskiert der schriftsteller geert mak, einen reisebericht durch europa des 20. jahrhunderts zu verfassen. und trifft meinen geschmack und meine verständnis von zeitgeschichte voll.

„1999 war das Jahr des Euro gewesen, Mobiltelefone hatten allgemeine Verbreitung gefunden, das Internet war zum Allgemeingut geworden, in Novi Sad hatten die Alliierten die Brücken bombardiert, die Effektenbörsen in Amsterdam und London feierten; der September war der wärmste seit Menschengedenken gewesen, und man fürchtete sich vor dem Millennium-Bug, der am 31. Dezember alle Computer stürzen würde.“

e_214770_67177_xlder essayist geert mak, der diese unaufgeregte bilanz zog, reiste 1999 ein jahr lang als journalist in europa herum. jeden tag verfasste er einen kleinen artikel für die frontseite des niederländischen handelsblatts. behandelt wurde so die befindlichkeit des kontinents am ende des jahrhunderts, das mit der weltausstellung in paris so hoffnungsvoll begonnen, mit der katastrophe der weltkriege indes eine jähe zäsur erlebt hatte.

die gegenwart europas im spiegel des 20.jahrhunderts ist das thema des speziellen geschichtsbuches, das aus diesen reisen entstanden ist. berichtet wird darin nicht aus den archiven der zeitgeschichte, wie man sie sich gemeinhin vorstellt. vielmehr wird die geschichte des bisher letzten saeculum aus den erlebnissen vor ort und den zahllosen zeugen der jüngsten vergangenheit, die nicht demonstrativ, dafür umso unvermittelt auffindbar sind.

paris 1900 – verdun 1916 – petrograd 1917 – münchen 1923 – guernica 1937 – dünkirchen 1940 – berlin 1942 – stalingrad 1943 – budapest 1956 – lissabon 1974 – danzig 1980 und srebrenica 1995 heissen die stationen, die für optimistische weltsichten, verlustreiche materialschlachten, revolutionen gegen monarchien, antidemokratische putschversuche, tödliche bombennächte, unseelige völkerschlachten, totalitäre griffe nach der weltherrschaft, aufstände gegen die sowjetunion, dekolonisierung der welt und die rückkehr des krieges in europa stehen.

„Ein furiose Zeitreise durch ein jahrhundert der Selbstzerstörung und der Wiedergeburt“ nennt „Die Zeit“ das buch, das einen durch mehr als 900 seiten beispielslos fesselt. wer seit auf dieses abenteuer einlässt, gerät in den sog der mitreissenden geschichte, aber auch der spannenden erzählung hierzu.

was und wie der bekannteste niederländische schriftsteller hier berichtet, ist wohl einmalig: flüssig, dicht und relevant zugleich. dabei ist es ganz egal, ob sich mak in einer der grossen europäischen hauptstädte, auf dem schlachtfeld von verdun, in den betriebsamen handelszentren des nordens, im ehrwürdigen reichstag in berlin, in einer pulsierenden südlichen metropole, im traurigen kz auschwitz, in stalingrad, budapest oder brüssel auf den schauplätzen der macht, in zubetonierten tschernobyl oder srebenica mit der grauenhaften erfahrung der krieges in der gegenwart befindet. denn überall begegnet mak menschen, die von ihrer erlebten geschichte berichten. was ein nachfolger des letzten kaisers, offiziere, dissidente, politikerInnen, bauern, bankiers, schriftstellerinnen und taxifahrer erfahren haben, dem weiss der begnadete publizist ein unverwechselbares gesicht zu geben.

geert mak ist für sein buch, das 2004 auf niederländisch, ein jahr danach auf deutsch erschien, auch kritisiert worden. es haben sich fehler eingeschlichen, bemängeln fachleute. und vielen rechten politikern ist der linke chronist suspekt.

das alles trägt dem gesamtwerk „In Europa“ nicht abbruch. mir hat die breite, vorsichtige herangehensweise gefallen. denn gerade bei der zeitgeschichte fallen historische urteile über den charakter eines jahrhunderts schwer. und genau in diese falle fällt der vielgereiste mak nicht.

deshalb empfehle ich es nach durchlesenen nächten all jenen, die sich zur recht beklagen, im geschichtsunterricht alles von den römern, vieles aus der renaissance, das nötigste über die modernen revolutionen, aber nichts über die jüngste zeit gehört zu haben.

stadtwanderer