die verschweizerung europas – ohne die schweiz?

eine neue eu-beitrittsdebatte forderte der zeitgeschichtler urs altermatt während seiner abschiedsvorlesung an der universität fribourg.

jpgurs altermatt, der internationalste unter den schweizer historikern, tritt in den (un)ruhestand

die abschiedsvorlesung
urs altermatt wurde heute emeritiert, wie man bei einem professor sagt, wenn er in pension geht. in der tat, der rüstige 68jährige, legte nach 30 jahren sein amt als hochschullehrer für allgemeine und schweizerische zeitgeschichte an der universität fribourg nieder.

die aula magna war bis auf den letzten platz voll. drei alt-bundesrätInnen, metzler, cotti und couchepin, waren da. die regierungsspitzen von fribourg, luzern und solothurn waren gekommen, und mit dem protokoll wurden auch frühere und aktive bundesparlamentarierInnen, spitzenbeamtInnen, militärs und selbst ein bischof höflich begrüsst.

neue eu-beitrittsdebatte
er spreche heute zu seinem lieblingsthema, sagte altermatt dem zahlreich erschienen publikum: “verschweizerung europas – ohne die schweiz” hiess sein vortrag. beleuchtet wurden die positiven wie negativen seiten des stereotyps verschweizerung. dann zeichnete er die tendenzen europas nach, welche den kontinent mit zwischenzeitlich 47 staaten den schweizerischen eigenarten näher brachten. die argumentation bereitete er via staatsgrösse, demokratisierung und föderalisierung vor, um sich und die zuhörerInnen zu fragen, ob sich auch die schweiz europa annähere. seine antwort viel vor allem im politischen negativ aus, was zur schlussfolgerung führte, die schweiz müsse die diskussion über einen eu-beitritt neu aufnehmen. für eine vollmitgliedschaft sei die schweiz wohl nicht bereit, schränkte er ein, für eine teilmitgliedschaft in einem europa der verschiedenen geschwindigkeiten indessen schon.

die erfolgreiche uni-karriere

altermatts karriere als historiker begann mit dem buch “der politische katholizismus im ghetto”. der aufbruch daraus und die integration der katholiken im bundesstaat interessierten ihn in der folge, bis schliesslich sein hauptwerk “katholizismus und moderne” erschien. danach wandte sich altermatt dem verhältnis dem antisemitismus und rechtradikalimus zu, um schliesslich ein buch zum rechtsextremismus in der schweiz herauszugeben. die jüngste phase seines schaffens war der europäischen ebene gewidmet. früh ging er den spuren des aufkeimenden ethno-nationalismus in den mittel- und osteuropäischen staaten nach, schrieb das fanal von sarajewo, und fragt, welche bedeutung die eu bei der konfliktregelung leisten könne. in 8 sprachen wurde dieses werk übersetzt und ein halbes dutzen gastprofessuren in mittel- und osteuropa fielen ihm zu, ohne dass er sein geliebtes fribourg, wo er auch als unirektor amtete, verlassen hätte.

der praktische professor
kennen gelernt habe ich urs altermatt zu beginn der 90er jahre. wir trafen in der fernsehsendung “tatsachen und meinungen” zur 700 jahr-feier der schweiz aufeinander – und vertraten die gegenteiligsten ansichten. unserem zusammensein hat das nicht geschadet, denn urs war nie ein mann grosser eitelkeiten, mehr einer der praktsichen taten. und so haben wir seither in vielen podien und sendungen miteinander fruchtvoll streiten können.

der erfolgreiche schriftsteller, gute rhetoriker und intellektuelle von altem schrot und korn liebte es, in die öffentlichen debatten zu intervenieren: zuerst zur schweizerischen aussenpolitik, namentlich via nzz, dann, als sein feuer für uno und eu den redaktoren am zürcher falkenplatz zu heiss wurde, eher über unsere bundesräte. das sei zwischenzeitlich nicht minder delikat, liess der publizist mit einer bibliografie mit 682 titel heute durchblicken. immerhin, auf sein “lexikon der schweizer bundesräte” stützen sich heute alle als ausgewiesenes standartwerk zur politischen institionen- und personengeschichte der schweiz.

beerdigung dauern bisweilen

“abschiedsvorlesungen sind so etwas wie beerdigungen”, witzelte der abtretende heute selbstsicher, um beizufügen: “beerdigungen dauern bisweilen”. und so machte altermatt heute klar, das bald schon ein buch über “die schweiz und europa” aus seiner flüssig geführten feder erscheinen werde. sein plädoyer für einen eu-beitrittsdebatte erhöht die spannung auf die veröffentlichung.

1967 habe er, damals noch an der uni bern, für den uno-beitritt der schweiz geworben, meinte altermatt zuletzt. 35 jahre habe es gebraucht, bis die schweiz mitglied der vereinten nationen war. nun fordere er den eu-beitritt – und sei überzeugt, diesmal werde er nicht 35 jahre warten müsse, bis seine forderung realität werde.

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