der stadtnomade

1921 kam robert walser 43jährig nach bern. an 15 verschiedenen adressen der bundesstadt sollte er in den folgenden 5 jahren wohnen. das murifeld gehörte ebenso dazu wie die elfenau oder die thunstrasse. ja selbst an der gerechtigkeits-, kram- und junkerngasse hauste der in biel geborene schriftsteller vorübergehend. weil er nie nirgends sitzleder hatte, nannte man ihn auch den stadtnomaden.

morlang_bernrobert walser, schweizer schriftsteller, in bern lebend, bevor er in die waldau eingeliefert werden musste

gelebt hatte der junge walser in vielen städten. gelernt hatte er das kaufmännische gewerbe. gereizt hätte es ihn, schauspieler zu werden. bei der probe durchgefallen, sattelte er um und begann zu schreiben. büroangestellte waren sein thema, die er der damaligen zeit folgend “commis” oder auch “gehülfe” nannte und die er als soziologische kategorie in die deutschsprachige literatur einführte.

in bern hatte walser in der person von joseph victor widmann, dem grossen literaturkritiker bei der zeitung “Der Bund”, eine gewichtige stütze, die sich wähnte, den wenig bekannten schriftsteller entdeckt und unter die grossen der deutschen literatur der zwischenkriegszeit eingeführt zu haben.

doch walser konnte davon nicht leben. sein versuch, im berner staatsarchiv ein geregeltes einkommen zu erzielen, scheiterte schnell. dazu schrieb er:

“Mein Bureauchef war neulich riesig artig zu mir, er sagte mir, ich könne nichts. Durft’ ich mir solches gefallen lassen? ‘Ei was’ erweiderte ich, ‘ich kann allerlei, ich kann zum Beispiel abdanken.’

und so war walser wieder auf der gasse, suchte nach dem romanfaden für “Die Räuber”, und verfasste daneben das, was man von ihm heute noch kennt: 1600 texte von literarischem gehalt. alles aus dem werk walsers ist das bei weitem nicht, denn vieles ging verloren, blieb in den anfängen liegen oder erschien irgendwo in einer zeitung, ohne dass jemand noch den überblick hatte.

robert walsers leben und wirken in bern beschreibt nun werner morlang in einem kleinen buch, das jüngst im zytglogge verlag erschienen ist. darin macht sich der ehemalige leiter des robert-walser-archivs auf die spuren des stadtnomaden. fotografien aus der berner zeit des schriftstellers hat er gesammelt, kontroverse zeugnisse über den eigenwilligen menschen hat er niederschreiben lassen, und ein einfühlsames tableau aus dem leben des dichters hat er selber verfasst.

wer das alles liesst, merkt, wie walser ende der 20er jahre litt. die wirtschaftskrise machte ihm zu schaffen, der zeitgeist änderte sich rasch und inspirierte den schriftsteller immer weniger. die strengen konturen der stadt, die walser anfänglich halt geboten hatten, lösten sich auf, der soziale kitt, den er mit kumpanen in den beizen hatte, verflüchtigt sich. und seine psyche erkrankte

von halluzinationen schwer geplagt, von angstzuständen mächtig getrieben, bricht er 1929 erschöpft in sich zusammen.

seine schwester rät ihm, in die waldau, die heilanstalt für nervenkranke, einzutreten. er folgt dem rat, und findet ein neues zuhause. kleinstgeschriebene texte, mikrogramme bezeichnet, verfasste er noch, bis er, 1933 nach herisau übersiedelt wird, wo er aufhörte zu schreiben.

nur noch wanderungen unternahm er am fusse des säntis, bis er 1956 auf einer seinem geliebten, unendlich langen spaziergänge starb.

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