lauter historische zäsuren

roger de weck, einer der führenden publizisten des landes, unterzieht die schweizerische eidgenossenschaft nur zwei tage vor ihrem 161. geburtstag eine schonungslosen analyse, die nicht beim rücklick stehen bleibt, sondern in einen ausblick mündet.

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roger deweck, mitten in den symbolen der schweizerischen eidgenossenschaft, die das landesmuseum in zürich beherbergt (foto: thomas burla)

“Die Schweiz steht mitten in einer Identitätskrise: Zurück kann sie nicht, vorwärts will sie nicht.” so fasst der heutige tages-anzeiger das gespräch mit dem ehemaligen chefredaktor, der heute als freier publizist wirkt, zusammen.

de wecks these ist: ein halbes jahrhundert lang habe die schweiz auf drei pfeilern geruht. die konkordanz, die nicht-mitgliedschaft in der eu und den starken finanzplatz. doch stürzt das heute alles ein.

es sei die macht der gewohnheit, welche das land zusammenhalte. gewohnheitsnation nennt er sie in bewusster anspielung auf die vorherrschende deutung, die schweiz sei eine willensnation. diese bedürfe einer erneuten raison d’être.

real werde die schweiz immer kosmopolitischer, ruft der freiburger wirtschafshistoriker aus und gibt zu bedenken, wir würden unser immer autistischer verhalten. zwei komplexe stünden einander gegenüber: der der überheblichkeit, und der der minderwertigkeit.

ersters zeige sich, wenn man so tue, als würden wir in einem container leben, der uns hermetisch von allem abschliesst, was rund um uns geschieht. zweiteres komme zum ausdruck, wenn grosse taten im nationalen interesse gefordert seien, und wir uns selber täuschen, um nichts zu tun.

getadelt wird dabei die politik, die sich dem primat der wirtschaft untergeordnet habe. so erodiere das staatsbewusstsein bis zur unkenntlichkeit, wie am niedergang des freisinn zu erkennen sei. gelobt wird dafür die nationalbank. sie wisse was sie wolle, und sie tue was sie sage. das sei bis jetzt die erfreulichste entwicklung in der krise und die stärkste stütze in der umbruchszeit gewesen.

de weck hält nichts vom exklusiven krisenmanagement der gegenwart, wie es vom bundespräsidenten betrieben werde. er fordert eine umfassende standortbestimmung, zum beispiel, was eine ökosoziale marktwirtschaft von europäischem format der schweiz bringen könnte. er selber verspricht sich von einer neuen generation von mitte-politikern, die erkennen würde, was wirtschaftlich notwendig sei, aber auch wüssten, wie die ökonomie grenzen haben müsse.

eine schöne geburtstagsbescherung, die es lohnt diskutiert zu werden, sagt sich der

stadtwanderer

der aufruf erscheint gerade rechtzeitig, um die fernsehserie “sternstunde geschichte” anzuzeigen, die am kommenden sonntag beginnt und 4 folgen umfasst.

helft, den libyschen brief zu verstehen!

seit heute morgen rätselt ganz bern über die post aus tripolis, die hans-rudolf merz am 26. august 2009 erhalten hatte. die aussenpolitische kommission tut es seit 7 uhr morgens, und der stadtwanderer auch.

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wo alles begann, aber nicht alles endete: medienkonferenz in tripolis nach dem vertragsabschluss zwischen der schweiz und libyen

im original, unterzeichnet vom libyschen ministerpräsident baghdadi al-mahmudi, stand übersetzt: «Ausgehend vom normalen Ablauf der Dinge in ähnlichen Situationen glauben wir, dass ihr Fall sehr bald entschieden sein wird und dass sie vor Ende Monat aus Libyen ausreisen können.»

in der diplomatensprache lautete das wie folgt: «With regard to the two Swiss nationals who have been subject of judicial measures due to their violation of the immigration laws of Libya, they are and have always been free to move freely in Libya and the have never under any kind of arrest. The legal process with regard to their case is under way and the General Prosecutor is dealing with the matter in accordance with the relevant Libyan laws and regulations and on an expeditiously manner. We anticipate that the procedures will be completed in a matter of days. Based on the normal course of things in similar situations we believe that their case will be determined very soon and they will be able to travel outside of Libya the end of the month.»

helfen wir, das schreiben zu verstehen, denn dem vernehmen nach driften die standpunkte in der aussenpolitischen kommission des nationalrats weit auseinander. geri müller, grüner präsident der apk, der den brief als erster sah, interpretierte das gestern abend im “10vor10” im verbindliche zusage: «Auf diesen Brief hätte ich genau gleich reagiert wie Bundespräsident Merz.» svp-hardliner christoph mörgeli, ebenfalls komissionsmitglied, hielt klar dagegen: “Wenn ich ein Los der Landeslotterie kaufe, glaube ich auch, dass ich den Hauptgewinn habe.”

also, klärt, was im text steht, damit die politik einen schritt weiter kommt!

stadtwanderer

der integrale brief

der putsch

es ist der 6. september 1839, heute vor 170 jahren. in zürich wird die liberale kantonsregierung durch die konservative landbevölkerung weggefegt. mit dem zusammenstoss macht ein neues wort geschichte: der “putsch”, eigentlich aus dem schweizerdeutschen, wird zum politischen begriff nicht nur in schweizer zeitungen, sondern auch im vielsprachigen ausland.

800px-zueriputsch_muensterhofder züriputsch vom 6. september 1839, dargestellt von martin disteli.

seit 1831 hatte der kanton zürich eine liberal-radikale verfassung, geprägt durch den geist der französischen juli-revolution von 1830. die bürgerlichen schichten in den landstädten hatten sie verlangt, um ihre vorstellungen von volkssouveränität gegenüber den aristokratischen gesellschaft und ihrer privilegien-politik durchzusetzen.

doch die landbevölkerung machte den wandel nicht mit. sie blieb konservativ und dachte unverändert religiös. der modernismus der bürgerlicher schichten war ihr suspekt. das galt vor allem für das treiben an der jungen universität in der hauptstadt. dort hatte der bürgermeister die wahl des liberalen theologen david strauss aus tübingen als professor für theologie durchgesetzt. den religionsunterricht an den volksschulen sollte er nun reformieren.

ein konservatives glaubenskomitee organisierte den widerstand in den gemeinden. strauss sagte ab, doch gärte es unverändert unter den bauern. und schon verstand sich das glaubenskomitee als konservative gegenregierung. da interventierte der liberale kanton bern, bot truppen auf, um den zürichern beizustehen. der zürcher regierungsrat lehnte dankend ab, konnte aber nicht mehr verhindern, dass sich das gerücht, fremde truppen seien unterwegs, um die einzig richtige religion auszurotten, wie ein lauffeuer im kanton zürich verbreitete.

«Vorwärts, wer ein guter Christ ist!» war der schlachruf des landvolkes, als es am sonntag, 6. september in scharen in die stadt zog. der eilends zusammengerufenen regierungsrat wollten die 2000 mann eine petition überreichen, um ihrer sorge über den zerfall der religion ausdruck zu verleihen. diese jedoch verschanzte sich, sodass sich die kontrahenten mit waffen gerüstet zwischen parade- und münsterplatz gegenüber standen. als die ersten schüsse fielen, eskalierte die lage. schliesslich bleiben vierzehn umstürzler und der regierungsrat, der die kapitulation überbringen sollte, tot liegen.

paul ziegler, der präsident der stadtgemeinde, versuchte zu vermitteln. eine provisorische regierung aus vier bisherigen und drei neuen wurde gebildet. der grosse rat löste sich nach tumulten selber aus, und innert 10 tages übernahm ein konservatives parlament die politischen geschicke des kantons. alle behörden des kantons wurden in ihrem sinne, aber gegen die verfassung neu besetzt.

der schriftsteller emil zopfi hat in seinem historischen roman “schrot und eis” den züriputsch ausführlich behandelt, und so das konservative zwischspiel in der liberalen regenerationszeit festgehalten. denn das septemberregime von 1839 hielt sich nur sechs jahre. 1845 übernahmen die liberalen die macht wieder. 1847 fegten sie gemeinsam mit den anderen liberalen und radikalen kantonen im sonderbundeskrieg den konservativen staatenbund aus den zeiten des wiener kongresses weg, sodass 1848 die schweizerische eidgenossenschaft, der heutige bundesstaat, auf freisinniger basis ausgerufen werden konnte.

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die erste bundesratswahl

ich bin in winterthur. am frühen morgen spaziere ich in der altstadt, bevor ich unterrichte habe. per zufall komme ich am geburtshaus von jonas furrer, dem ersten bundespräsidenten der schweizerischen eidgenossenschaft vorbei, über dessen wahl ich eben eine buchvorschau von rolf holenstein gelesen habe.

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morgendämmerung: das geburtshaus des ersten bundespräsidenten, jonas furrer, in der winterthurer altstadt mit der erinnerungstafel (foto: stadtwanderer)

155 parlamentarier, 111 national- und 44 ständeräte, zählte die frisch gegründete schweiz. anwesend waren allerdings nur 132. die freiburger konnte wegen übler wahlmanipulation nicht vereidigt werden, und die berner waren zum zeitpunkt der konstituierung noch nicht überall fertig mit wählen und zählen.

die bundesratswahlen leitete ueli ochenbein, denn der berner war bei der konstituierung des nationalrates in der berner hochschule zu dessen präsident gewählt worden. der zürcher furrer wiederum war an die spitze des ständerates im restaurant äusseren stand gehievt worden.

in den ersten bundesrat wurden der reihe nach jonas furrer, zürich, ueli ochsenbein, bern, henri druey, waadt, joseph munzinger, solothurn, stefano franscini, tessin, friedrich frey-herosé, aargau, und wilhelm naeff aus st. gallen gewählt. allesamt gehörten sie den freisinnigen an, die in beiden kammern über eine mehrheit der parlamentarier verfügten.

doch nur wilhelm naeff nahm die wahl in die bundesregierung unmittelbar danach an. franscini und munzinger waren nicht anwesend, und druey zauderte, weil er gar nicht parlamentarier werden, lieber bei seinen getreuen in der waadt bleiben wollte.

furrer und ochensbein schliesslich zierten sich, weil sie ihrem kanton die hauptstadt der schweiz sichern wollten. nur wenn die bundesversammlung ihre kantonshauptstadt zum dauerhaften sitz der bundesbehörden und der nationaluniversität machen sollten, wollten beide widersacher die wahl annehmen.

in diesem machtkampf hatte der berner ochenbein als wahlleiter die besseren karten. gegen widerstände liess er unmittelbar nach der bundesratswahlen den bundespräsidenten wählen: gewählt wurde furrer!

ochsenbein hatte sich damit nicht verrechnet. denn er hatte gemerkt, dass die parlamentarier unbedingt beide schwergewichte unter den freisinnigen im bundesrat haben wollten. er akzeptierte nun seine wahl als bundesrat, sodass furrers beharren als erpressung erschien. gleichzeitig fädelte ochenbein einen tausch ein. sollte bern die hauptstadt der eidgenossenschaft werden, würde zürich sitz der nationaluniversität werden.

in der tat: am fünften tag der diskussion nahm jonas furrer, die wahl als bundesrat an. damit war er automatisch bundespräsident. bern wiederum wurde bundesstadt, und zürich erhielt nach einige weiteren diskussionen das polytechnikum, die vorläuferschule der heutigen eth. am sechsten tag nach wahlbeginn traten die bundesräte erstmals zusammen: die schweizerische eidgenossenschaft hat seit diesem 21. november 1848 eine bundesregierung – mit sitz in bern.

und in winterthur schmückt heute eine tafel das geburtshaus von jonas furrer, dem ersten regierungschef der schweiz.

stadtwanderer

vom versuch, in bern l’hébdo zu kaufen, und von der möglichkeit, dass die schweiz schon lange aufgeteilt ist

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heute nun wollte ich l’hébdo kaufen, als ich in bern ankam. eine umfrage über die bundesratskandidatInnen wurde gestern abend angekündigt. die stimme aus der romandie interessiert mich, gerade in dieser frage.

also stieg ich aus dem poschi aus, und steuerte ich auf den benachbarten kiosk zu.
“nein, haben wir heute nicht bekommen”, erhalte ich zur antwort.

ich gehe etwas ungeduldig zum zweiten kiosk: “nein, haben wir mangels interesse abbestellt.”

ich wundere mich über das desinteresse der menschen in den landesteilen, und schreite zum dritten, dem grossen kiosk im untergrund des berner bahnhofes.

“l’hébdo”, fragt die verkäuferin nachdenklich, – um dann erfreut aufzuatmen. flugs führt sie mich an den stand mit der internationalen presse. dort bekomme ich dann zwischen “le point” und “paris match” meine stimme der romandie.

ob das bereits eine folge der aufteilung der schweiz sei, wie sie qadhafi von der uno verlangt, oder einfach unsere art ist, nebeneinander zu leben, frage ich mich, noch bevor ich endlich meine bundesratsumfrage lesen kann.

stadtwanderer

menschenrechte sind wichtiger als religionen

zu allererst bin ich humanistin. dann araberin, schliesslich muslimin. und bei alledem bin ich frau. das sagt elham manea, erfolgreiche buchautorin über sich selber. und fordert eine aufklärung im islam, mit der die menschenrechte über die religion und ihre gesetze gestellt werden sollen.

0001853349_0001_170geboren wurde elham manea im jemen, studiert hat sie in kuweit, zur doktorin der politikwissenschaft wurde sie in den usa. in washington lernte sie auch ihren mann kennen, mit dem sie seit einigen jahren in bern lebt. tagsüber arbeitet manea an der universität zürich als dozentin, abends schreibt sie bücher. oder liest daraus.

der humanistische islam ist ihr grosses thema. am anfang, erzählt sie bei einer lesung in der bibliothek in hinterkappelen, wollten nicht einmal ihre verwandten mit ihr darüber sprechen. doch jetzt ist alles ganz anderes. manea vesteht sich als teil einer bewegung für einen aufgeklärten islam, der namentlich unter intellektuellen in europa und in den usa anhängerInnen gefunden hat. einmal jährlich trifft man sich in berlin zu einer konferenz, um die gemeinsamen positionen zu diskutieren.

ich will nicht mehr schweigen“, heisst ihr buch selbstbewusst, aus dem sie auf einladung der reformierten kirchgemeinde wohlen berichtet. entstanden ist es als aufschrei über die ermordnung des filmemachers theo van gogh, der sich kritisch mit dem islam in den niederlanden auseinander gesetzt hat.

schnell wird klar, was sache ist: die menschenrechte stehen im zentrum ihrer lebensauffassung. sie gelten universell. ihre geburtsstunde sei sehr wohl in europa, in der französischen revolution. doch sind sie in der heutige gültigen form durch die uno erkämpft worden. sie müssen überall durchgesetzt werden.

die menschenrechte lassen sich mit dem islam vereinen, sagt manea in bewusster abgrenzung zu vielen, die religionen unverändert über das universelle recht stellen. die schweizerin grenzt sich auch vehement gegen professor christian giordano ab, der vor jahresfrist vorschlug, für immigrantInnen muslimischen glaubens die scharia zuzulassen. in ihrer lesung erzählt sie deshalb auch das beispiel, wie die kanadische regierung 2004 genau das einführen wollte und wie sie die absicht nach protesten vor allem von musliminnen zurücknahm.

ihr humanistischer islam hilft manea auch, ganz praktische fragen zu beantworten. kopftücher für kinder sind falsch. bei erwachsenen gibt sie eine differenzierte antwort. frauen müssen das recht haben, sich selber für oder gegen das kopftuch zu entscheiden, ohne zwang ihres mannes oder erwartungen der familien. selber tritt sie ohne auf und findet, musliminnen in öffentlichen ämtern in der schweiz sollten das hier auch so handhaben.

die schweiz fordert sie auf, die menschenrechte hier und überall zu verteidigen. wo toleranz zu gleichgültigkeit führt, erreicht sie genau das gegenteil von dem, was sie will, fördert sie parallelgesellschaften, lässt feindbilder zu und spielt sie den religiösen extremisten in die hände, rüttelt manea die über 100 interessierten zuhörerInnen auf. eine stunde hören sie ihrer leisen stimme und ihren dezidierten worten staunend zu, bevor sie sich mit einem warmen applaus bei der buchautorin bedanken.

den stadtwanderer erinnert sich, auch schon stadtführungen zum thema des interreligiösen zusammenlebens gemacht zu haben und zum genau gleichen schluss gekommen zu sein. menschenrechte sind das einzig universelle, was wir haben, wenn wir in aller verschiedenheit aufgeklärt zusammenleben wollen. sie hochzuhalten ist die aufgabe unserer zeit.

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