frage an radio stadtwanderer: was ist konkordanz?

ate, unsere fleissige kommentatorin, will wissen, was man eigentlich unter konkordanz versteht. radio stadtwanderer antwortet: der begriff der konkordanz wird vielfältig verwendet. er hat theologische, soziologische und politologische bedeutungen. eine historisch ausgerichtete auslegeordnung, um die verständnisse zu schärfen.


trotz zahlreicher bruchlinien quer durch das land die schweiz stets von neuem zusammenführen ist die hauptaufgabe der helvetischen konkordanzpolitik

der ursprung des begriffs
der zerfall der einheit der katholischen kirche erschütterte die welt des 16. jahrhunderts schwer. reformatoren traten in vielen städten auf, prostestaktionen formierten sich im kaiserreich, kirche und gesellschaft spalteten sich in bisher unbekanntem masse. mit der gegenreformation versuchte die katholische kirche ihren führungsanspruch wieder einzulösen, und löste damit die erste konkordanzbewegung aus. verschiedene der reformierten stadttheokratien, die sich durch abgrenzung gegenüber dem umland definiert hatten, suchten jetzt untereinander nach übereinstimmungen in ihrer neuen religion.

bekanntlich gelang das zwischen calvinisten und lutheranern nicht. in der schweiz näherten sich die verschiedenen glaubengemeinschaften in zürich, bern und basel in der mitte des 16. jahrhundert an, was man als geburtsstunde der helvetischen konkordanz bezeichnen kann.

die begriffsverwendung in der schweiz
seither wird der begriff insbesondere der schweiz regelmässig verwendet, um das verhalten zu charakterisieren, das bestrebt ist, tiefgreifende sozialen spaltungen zu überwinden, welche die einheit des landes gefährden könnten. konkordantes verhalten suchte man in der aufklärung zwischen den verfeindeten konfessionen, seit der helvetischen republik auch zwischen den sprachregionen. konkordanz setzt nicht das aufgehen in einer neuen kultur voraus, minimal aber die suche nach verständnis für einander, die durch bewusste formen der elitekooperation vertieft und verstärkt wird.

bis ins 20. jahrhunderts hinein war die begriffsverwendung gesellschaftlich, wurde danach aber zunehmend auch in die politik eingeführt, um die teilung zwischen dem regierenden bürgerlichen lager und dem oppositionellen sozialistischen zu überwinden. während des generalstreiks 1918 stand man einander verfeindet gegegenüber und setzte die mehrheit das militär gegen minderheit ein. angesichts der bedrohung von aussen suchte man seit mitte der 30er jahren jedoch eine annäherung. es entstand die sozialpartnerschaft zwischen arbeitgebern und arbeitnehmern, und es formierte sich das system der integration alle grossen parteien in die bundes-, teilweise auch kantons- und stadtregierungen.

bundesratszusammensetzung und konkordanz
höchster ausdruck der konkordanten politik war die geburt der zauberformel 1959. sie brachte die verbindliche beteiligung der sp im bundesrat. vorausgegangen waren der abschied vom klassenkampf und die anerkennung der landesverteidigung durch die linke, während die bürgerlichen parteien auf sozialpolitische forderungen eintraten. der antikommunismus dere 50er jahren erleichterte das. er förderte auch die ausrichtung am konsens, demnach immer alle für alles eintreten müssten. ungelöst blieb dabei die frage nach den politischen rechten der frauen in der konkordanten politik.

das parlament behielt sich seit beginn der zauberformel vor, jenseits der numerisch bestimmten sitzverteilung im bundesrat die personenauswahl selber vorzunehmen. so wurde 1959 nicht der sp-präsident und schaffhauser nationalrat walter bringolf bundesrat, sondern der basler rechtsprofessor hans-peter tschudi. in der folge wurden mehrfach offizielle bundesratskandidaten von der bundesversammlung nicht gewählt; seit 2003 werden auch bestehende mitglieder nicht-wiedergewählt.



bundesratswahlen und konkordanz

in den 90er jahren veränderten sich die parteistärken angesichts neuer bewegungen und polarisierungen in bisher ungekanntem masse, was zu einer neuformulierung der konkordanzregeln führte. parallel dazu verringerte sich das gewicht von fdp und cvp im zentrum; es erstarkten sp und svp, die weniger gut integriert waren. als erstes fiel die ausrichtung am konsens. er wurde durch das konzept der variablen mehrheiten (3 bundesratsparteien, abwechslungsweise ohne sp oder svp müssen zustimmen) ersetzt.

1993 entwickelte sich die bisher schwerste krise, indem der sozialdemokrat francis matthey statt der offiziellen sp-kandidatin christiane brunner zum bundesrat gewählt wurde. auf druck seiner partei lehnte er die wahl nach bedenkzeit jedoch ab, und die sp legt der bundesversammlung eine zweiernomination vor, aus der ruth dreifuss als neue bundesrätin und erste bundespräsidentin der schweiz hervor ging.

2003 wurde auf druck der svp das wahlverfahren für die svp geändert. inhaltliche anforderungen an die bundesratszugehörigkeit wurden zugunsten der arithmetischen konkordanz aufgegeben. demnach bestimmt einzig die parteistärke die bundesratszusammensetzung. die svp nominierte 2003 auch nur einen kandidaten, christoph blocher. nach vierjähriger amtszeit wurde er 2007 als bundesrat nicht wieder gewählt. in der folge führte die svp eine ausschlussklausel in ihre statuten ein, um die wahl nicht genehmer bundeesräte zu verhindern, während im parlament eine diskussion entstand, die rein arithmetische konkordanz durch inhaltliche anforderungen neu zu bestimmen.

bei den letzten bundesratswahlen 2008 nomierte die svp-fraktion nach anfänglichen widerständen erstmals wieder zwei offizielle kandidaten, bestand aber hartnäckig darauf, dass einer der beiden gewählt werden müsse. in der wahl setzte sich schliesslich ueli maurer mit einer stimme vorsprung auf den inoffiziellen kandidaten hansjörg walter durch.

gegenwart der konkordanz

die meisten kommentatoren bezeichneten das als prinzipielle rückkehr zur konkordanz auf bundesebene. vollauf gewährleistet ist sie aber mit der jetzigen 5-parteien-regierung weder in arithmetischer hinsicht. noch ist sie politisch gewährleistet.

die meisten politikwissenschafter schliessen sich diesem urteil mit abstrichen an. betont wird in der regel, dass schweiz aber kein musterfall der konsensdemokratie mehr sei, sondern ein normalfall einer verhandlungsdemokratie. angesichts des stark föderalistischen charakters, der hohen bedeutung des exekutivsystems in der praxis und der ausgebauten direkten demokratie wird ein übergang zu einem mehrheits-/minderheitssystem für nicht sinnvoll angesehen. wie weit aber die politische kultur der politischen und meinungsbildenden eliten heute noch der konkordant ist, bleibt umstritten.

radio stadtwanderer