innere enge

die innere enge ist bern zunächst ein ganz tolles restaurant, das ursprünglich ausserhalb der stadt stand und im 18. und 19. jahrhundert ein beliebter treffpunkt war. niemand geringeres als josephine, die erste gemahlin von napoléon hielt sich da 1810 auf, als sie bern mit ihrem besuch grösse verlieh. innere enge ist in bern aber auch ein grundgefühl, das dem wortsinn deutlich näher kommt. es geht um kleinheit, um introvertiertheit und um beklommenheit. von diesem unbehagen habe ich ja auch schon berichtet. und es beschäftigt mich seit meiner rückkehr persönlich. nicht gedacht hätte ich aber, dass ich damit auch gleich eines der kontroversen stadtthemen empfinde.

bild-281.jpgdie sich anbahnende politische kontroverse in bern

vor einer woche erklärt regula rytz, mit der überarbeitung des nutzungsreglement in der oberen altstadt die bewilligungen für strassenrestaurant überprüfen, sprich einschränken zu wollen. seither ist der teufel los, denn der vorschlag der grünen gemeinderatin, die in der stadtregierung in der mehrheit ist, gibt ein tolles sujet im wahlkampf ab, der sich für kommunalwahlen vom 30. november 2008 ankündigt. die entgegengesetzten vorstösse aus dem bürgerlichen lager werden, soweit ich sehe, jeden tag zahlreicher, und sie bestimmen zusehends, was man in der stadt und in ihren zeitungen momentan diskutiert.

zu den tieferliegenden gesellschaftlichen symptomen

was steckt dahinter? soziologen analysieren seit langem die verschiebungen von privatem und öffentlichen in nachmodernen städten. in dörfern der traditionellen agrargesellschaft, aber auch in mittelalterlichen städten war die trennung noch unvollständig. sie hat mit dem wachstum der städte während des industriezeitalters zugenommen, und sie wird jetzt, in den posindustriellen städten wieder aufgehoben. plätze und strassen sind nicht mehr eindeutig öffentlich, und auch kirchen, kasernen oder schulen werden für neue, meist privaten nutzungszwecke geöffent. das ganze setzt sich in der werbung fort, die im öffentlichen raum, sei dies nun in stadien, am postschalter oder an häuserflächen präsenter wird, meist aber privaten interessen dient. mit der mobilen strassenwerbung, die den gehsteig, das taxi oder auch den gepäckträger von fahrrädern erobert, wird eine weitere stufe in diesem prozess erklommen.

wo der platz unbegrenzt ist, mag das alles noch gehen. doch der urbane raum zeichnet sich gerade durch dichte der kommunikation und ihrer symbole aus. und auch die menschen kommen sich im städtisch geprägten umfeld distanzmässig automatisch näher als im ländlich. in bern verstärkt sich der eindruck, denn in der altstadt dominieren gassen, die gar nicht auf den motorisierten verkehr ausgerichtet sind; es stehen die häuser, die mehrere stockwerke nach oben ragen, nahe an den strassen. und es ist zu keiner entflechtung der verkehrteilnehmer gekommen. die beruhigung durch den motorisierten verkehr ist unvollständig, die softmobilen nehmen zu, und unter den fussgängern gibt es immer mehr auch gruppen, die geschlossen auftreten, etwa demonstranten, touristen und auch stadtwanderer.

das alles wird durch den zerfall öffentlich verbindlicher sitten verstärkt. es regiert die individuelle rechtssetzung, wonach gilt, was einem selber nützt, wonach der raum beansprucht wird, den man für rasches vorankommen braucht, und wonach rücksichtnahme auf andere, auch schwächere menschen im städtischen raum bald ganz verschwindet.

keine vereinfachungen angesichts der neuen bruch- und baustellen

doch will ich hier nicht moralisieren. weder aus meiner momentanen befindlichkeit heraus, noch als politischer beobachter. ich glaube aber, dass die frontstellung wie sie sich im momentanen wahlkampf anzuzeichnen beginnt, falsch ist. es geht nicht um rotgrüne politik, genauso wenig wie es um gewerbefeindliche massnahmen geht. das alles sind versucht, die öffentliche diskussion parteipolitisch zu instrumentalisieren. umgekehrt geht es allerdings auch nicht einfach darum, die wuchernde individuelle inanspruchnahme des öffentlichen raum für private zwecke zu kritisieren, sei dies durch bettler im bahnhof, durch passanten, die von der welle strömen oder durch strassencafe besucher, die ein wenig den kurzen sommer geniessen möchten.

meines erachtens geht es um einen viel tiefer greifende gesellschaftspolitische bruch- und baustelle, die sich aus der inneren enge als tatsache in zeitgenössischen städten wie bern ableitet. man hat das während des bahnhofplatzumbaus als vorübergehende erscheinung bagatellisieren können. und man hat es während der euphorie angesichts der orangen bewegung während euro 08 vergessen können. angesichts der zurückgekehrten normalität zeigen sich die probleme, wie sie eben sind: verdammt vielschichtig in verdammt engem raum. sie müssen gelöst werden, und zwar über den 30. november 2008 hinaus!
stadtwanderer

bild: gedrängter geht’s nimmter; passantinnen, werbung, glacestände und riechende schaufenster auf engstem raum unter berns altstadtgassen (foto: stadtwanderer)