die rebellion des bedrohten wortes

weihnachtsessen bei den fdp-frauen des kantons bern. keinen kuscheliger jahresausklang versprechen die organisatorinnen. denn sie haben jene referentin ausgewählt, die mit sicherheit im betuchten saal des äusseren standes in bern für einen grossen wirbel sorgt.

es spricht regula stämpfli: die “lara croft der schweizer politologie”. die “nervensäge aus brüssel”. die “virtuosin des punktes”. das alles gehört zu ihrem ruf, den ihr die medien, gewollt oder ungewollt, zugeschrieben haben. doch das kümmert sie wenig: sie kennt den mechanismus, macht ihn selber zum thema und trägt lob und tadel gleich selber vor.


das ereignis, das zum schweizer foto des jahres 2007 geführt hat: der nackte stein unter dem schwindenden gletscher, mit wortlosen, aber nackten körpern gegen den klimawandel und seine folgen in der schweiz inszeniert (quelle: greenpeace)

die verschmelzung von privatem und öffentlichem

eigentlich soll sie über “leben, freiheit und eigentum” reden. doch daraus wird nur wenig: regula stämpfli, eine woche in der schweiz, um die premiere ihres neuesten buches vorzubereiten, hat vor allem die premiere im kopf. also redet sie an diesem abend nicht von freiheit, wie die fdp-frauen hoffen. dafür vom leben, von ihrem leben und ihrer lebensphilosophie. und vor allem vom eigentum.

“das eigentum entsteht aus der trennung von öffentlichem und privatem”, lehrt die dozentin in politik, geschichte, medien und design. doch genau diese trennung wird heute vielfach bedroht. angesichts der privatisierung der öffentlichkeit und der veröffentlichung vom privatem weiss niemand mehr, was sein wirklich eigen ist.

schuld daran sind, so stämpflis zeitdiagnose, die massenmedien, die der gegenwärtigen bilderflut erlegen sind: “die eroberung der welt durch das bild”, ist an diesem abend einer der kernsätze, den die buchautorin in anlehnung an martin heidegger prägt. mit dem deutschen philosophen der nazis widerlegt sie auch gleich karl marx, den deutschen philosophen der arbeiterschaft, dialektisch:

heute prägt nicht mehr das sein unser bewusstsein.
das sein der kapitalistischen warenwelt prägt nur noch das bewusstsein der unterhaltungsindustrie.
die aber prägt unser ganzes leben!

voilà! hollywood und cannes, bilderdatenbanken und designerschule, aber auch inserate mit kinderwerbung und migros-plakate mit halbnackten nationalratskandidatInnen sind die heutigen tatorte gegen die menschwerdung, vor allem die der frauen.

das bild – die neue form des totalitarismus

stämpflis angriff auf den “pictorial turn”, wie die fachleute die dominanz zum bild beschreiben, ist knallhart. ganz bestimmt durch hannah arendt wittert sie darin eine neue form des totalitarismus:

wir hören politikerInnen nicht mehr zu; wir mustern sie nur noch nach dem schauwert, rüttelt stämpfli uns auf.

wir fragen nicht mehr nach dem besten argument; wir laden uns nur noch den clip mit dem flappsigsten versprecher in der sache runter, diagnostiziert die buchautorin.

und wir alle googeln uns nur noch durch die bildergalerien, statt selber politisch zu handeln, weiss die zeitkritikerin.

die tendenz ist klar; wir alle erliegen der macht des bild: fotos aus der schweizer illustrierten, gadjets aus eu-kampagnen und sequenzen aus porno-videos. sie alle verdichtet die referentin in ihrem vortrag zu einer eigentlichen präsentation gegen das zeigen! und es wirkt, denn die botschaft kommt an: wir sind gegenwärtig dabei, einen kulturelle schwelle zu überschreiten, die nichts gutes verspricht!


das buch zu medien und bildern: die diagnose der zeitkritikerin regula stämpfli gibt nach 4 jahren arbeit auch in buchform.

geballte ladung – aber kein raum zum verhandeln

doch da möchte man dazwischen rufen: ist das schlecht? oder gut? – ich würde nicht so schnell urteilen. und, meine meinung neigt in die andere richtung als die der referentin. ich bin eher opitmist.

klar, wir sind die ersten menschen, die mit 9/11 live erlebt haben, wie eine neue epoche anbricht. europa brauchte dreihundert jahre, um die entdeckung der neuen welt zu verdauen. wir begriffen in drei sekunden, dass dies ein einschnitt war.

doch sind wir des medienkonsums wegen alle verblödet? wir wissen doch genau, dass weder die uno, noch der kreml oder das bundeshaus die entscheidenden arenen der gegewartspolitik sind. vielmehr haben wir schritt für schritt gelernt, via internet, fernsehen und kino politik zu verfolgen, zu rekonstruieren, und uns eine meinung zu bilden, ohne in die arena zu gehen, ohne im säli des bären zu hocken und ohne dem bundeshaus einen obligaten besuch abzustatten.

denn wir haben die sprengkraft der mohammed-karikaturen erlebt, auch wenn wir die dänische zeitung jyllands posten nie in unserem leben in den händen gehalten haben. und wir wissen längst, dass der zorn der zeit medial entfacht, emotional angeheizt zur kollektiven hype führt.

doch für den aufgestauten zwischenruf ist an diesem abend kein platz. die referentin ist zu schnell und zu absolut: sie kritisiert das generelle fehlen der urteilskraft in der heutigen zeit. und dann haut sie noch einen drauf: die menschen sind überhaupt nicht mehr in der lage zu denken!, spitze ich das zu: selbst wer denkt, er oder sie denke, erliegt der verführung durch das bild. rené descartes “cogito, ergo sum” verkomme zum generellen “in media, ergo sum.” – bum!

das geschriebene zum gesprochene wort

die schnelle diagnose der postmodernen krise hat regula stämpfli bewogen, selber nicht mehr nur auf das gesprochene wort zu setzen. sondern auch gleich ein buch darüber zu schreiben. das jedoch ging einiges länger. vier jahre hat sie “die macht des richtigen friseurs. über bilder, medien und frauen” gearbeitet und dabei ein ziel verfolgt: die zurückgebliebene alphabetisierung unseres blicks voranzutreiben. gefragt sei mehr urteilskraft, um sich bewusst zu werden, was man sehe. denn das was ist, sei einem angesichts der vielen welten, in den wir lebten, nicht mehr klar. und mit der welt verschwinde das wort. es zu stärken, sei der sinn ihres ganzen schaffens.

in sieben kapiteln erörtert stämpfli deshalb wie immer geistreich und unterhaltsam, weshalb jahreszahlen zu geburt und tod kein leben erzählen würden, weshalb mit dem szientismus der neuzeit das denken verloren gehe, weshalb der mensch zum sprechenden tier verkomme, weshalb man im zeitalter des live-fetischismus’ für nichts berühmt werde, weshalb man im zeitalter der grausamkeit dennoch lieben solle, und weshalb die blindspirale durchbrochen werden muss.

das ist dann auch ein ganzes philosophisches programm, gespickt mit einsichten aus geschichte, politik und medien, die zur handlungsanweisung werden sollen. ob das alles schon gelingt, weiss man jedoch noch nicht: gut ding will weile haben – gerade in der philosophie!

würdigung nicht als schnellschuss sinnvoll


an diesem abend wäre ich auch nicht mehr in der lage gewesen, das geschenkte buch zu lesen. mit den fdp-frauen assen wir noch etwas feines (“pouletschenkel”), sprachen wir noch über kindererziehung (“sex mit sechs”), und musste ich, beim gang an die frische luft, fdp-männern an der bar berichten, was ihre frauen besprochen hätten (“kommt nach dem versagen des patriarchates das matriarchat”).

ich hätte es aber auch anderntags nicht geschafft, das buch zu lesen. denn regula stämpfli war trotz heiserkeit laut und deutlich, wegen des bildeinsatzes mit powerpoint-unterstützung heftig und deftig, und sie war kreativ und chaotisch. sie hat uns ihren geistigen zettelkasten der vierjährigen recherche an ihrem buch in weniger als zwei stunden ausgeleert und wie schneeflocken von ihrem himmel fallen lassen.

der abend war beeindruckend, aber auch erschwerend. er war aufregend, aber auch blockierend. er war unterhaltsam, – aber noch nicht wirklich erhellend!

um diese sich ausbreitende rebellion des bedrohten wortes wirklich zu verstehen, werde ich mehr als diesen abend brauchen. das buch steht mir ja noch bevor!

stadtwanderer