statt augen

zu den üblichen kennzeichen einer stadt zählt ihre anonymität. im dorf kennt jede(r) jede(n). in der stadt hingegen kann man nicht sein, ohne jemanden zu kennen oder ohne erkannt zu werden.

glaubt man jedenfalls. in der stadt erkennt man einen, auch wenn man einen nicht kennt. die augen sind auf einen gerichtet, unscharf, unbewusst, doch nicht unbedarft. ich weiss darum.


augen einer stadt 1 (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

wir glauben in der stadt unerkannt zu bleiben, unter anderem weil wir annehmen, unerkannt zu sein. unsere augen sind weniger deutlich auf andere gerichtet, die uns beobachten könnten. es funktioniert der mechano, der automatischen kontrolle, die am rande unseres bewusstseins ist.

wenn man eine gute weile ausserhalb einer jeden stadt war, wird einem erst wieder bewusst, wie unsere eigene einstellung, dass man uns in der stadt nicht erkennt, trügerisch ist. die automatisierte gewohnheit ist verschwunden, und man reagiert wieder viel sensibler auf jedes auge. da macht einem bewusst, wie oft man beobachtet wird.


augen einer stadt 2 (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

doch sind es nicht nur die augen der lebenden, die uns beobachten. es sind auch die augen derjenigen, die nicht leben, die uns beobachten.

die augen der bilder.
die augen der plakate.
die augen der werbung.
die augen der fotos.
und die augen der kunst.


augen einer stadt 3 (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

sie sind bisweilen direkt auf uns gerichtet. es hat augen, die fixieren einem förmlich. andere wiederum locken sie, machen an, sind sie verführerisch. schliesslich hat es ausgesprochen diskrete blicke, die man fast übersehen würde. frauen, männer, kinder, tiere, sie alle schauen uns die ganze zeit an.

einladend.
herzhaft.
kampfbereit.
verträumt.
liebevoll.
eindringlich.
scheu.
fordernd.
aufmerksam.
frech.
weltschmerzend.
unverbindlich.
dominant.
fragend.
kontrollierend.
wachend.
entgegnend.
beschützend.

die augen, die nicht leben, können sich nicht bewegen. das stimmt, und trifft ihre wirkung doch nicht ganz. gerade in der city hat so viele augen, die nicht leben, sodass man den eindruck hat, stets von jemand anderem beobachtet zu werden. es ist immer jemand da, und es ist immer ein anderer blick, der uns erreicht.


augen einer stadt 4 (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

da ist man gerade froh, wenn man das gesicht auf dem bild erkennt. das hilft, die täuschungen zu sortieren. aha, das sind die augen von albert einstein, von che guevara, von buddha. oder von thomas, meinen früheren berufskollegen, der jetzt für erdgas wirbt. oder von naomi campbell, claudia schiffer oder michelle hunziker. selbst die werbung der mode- und parfümmarken bringt es fertig, eine bestimmte botschaft des auges, das nicht lebt, zu vermitteln. ich kann zwischenzeitlich den blick von chanel von jenem anderer düfte unterscheiden.

ich bin froh, dass diese augen nur vorgeben, etwas zu sehen, letztlich aber blind sind. sie merken sich nichts. deshalb wenden sie sich, wenn wir vorbei sind, auch an niemanden. sie erzählen nichts weiter. sie sind nur illusionen. sie sind die vermenschlichung der öffentlichkeit, die personalisierung der urbanen anonymität.


augen einer stadt 5 (fotos: stadtwanderer, anclickbar)

in ein paar tagen werde ich sie wieder kaum mehr merken, wenn ich bern spazieren gehe. ich werde um sie wissen, einzelne wahrnehmen, andere ausblenden. meine internen verdrängungsmechanismen werden wieder funktionieren. anders als jetzt,wo ich sensibilisierter bin, werde ich sie wieder ins unbewusste verdrängt haben.

doch dieser tage sind die symbolisierten augen meine nicht lebenden begleiterinnen in der stadt. es sind die stattaugen, die mich gegenwärtig beschäftigen, anstatt die augen.

stadtwanderer