fassadenbern längst unterwandert

bern, das sind steinerne fassaden, vereinheitlichte stadthäuser, kollektivistische sitten!meint man …
bern, das ist die altstadt mit dem höchsten mass an individualisierung, korrigiert eine studie über die die soziokultur in der schweiz. demnach ist gerade die individualisierung als teil des soziokulturellen wandels nirgendwo so fortgeschritten, wie in der berner altstadt. der stadtwanderer hat nachgelesen und berichtet.


wunderebare fassaden der berner altstadt verdecken den erheblichen soziokulturellen wandel in der kernstadt (foto: flickr_intutum)

schillernder begriff “soziokultur”

soziokultur ist ein schwer fassbarer begriff. unbestritten ist eigentlich nur, dass soziokultur an einen raum gebunden ist, und so beobachtet werden kann, wenn sie menschen mindestens vorübergehend an einem ort aufhalten.

soziokultur verschwindet mit der auswanderung. sie ändert sich mit der einwanderung. sie wandelt sich aber auch mit der strukturellen zusammensetzung einer gesellschaft: unterschichtung sozialwohnungsbau ändern die soziokultur genauso wie die verlagerung von wohn- zu arbeitsraum. und sie verändert sich mit der verflüchtigung von gesellschaft, etwa der horrenden mobilität in bahnhöfen.

soziokultureller wandel ergibt sich auch dann, wenn menschen mit verschiedenen herkünften, unterschiedlichen bräuchen und sitten, mit divergentem rechtsempfinden und anders lautenden gesetzen aufeinander treffen. normen des alltäglichen verhaltens kommen dann in bewegung, in streit, und der konflikt muss ausgetragen werden. das kann zu integration von werten, zur segregation von lebenswelten oder auch zur zerstörung von soziokultur führen.

verdienstvolle konkretisierung durch sozialgeografInnen

verdienstvollerweise haben drei sozialgeografInnen der uni zürich raum, struktur und kultur der schweizer gemeinden und quartiere systematisch untersucht. sie haben das verfügbare datenmaterial vor allem des bundesamtes für statistik gesichtet. sie haben es klassiert und sortiert. und sie haben die entwicklungen zwischen 1990 und 2000 beobachtet. so bekommt man ein bild des soziolkulturellen wandels in der schweiz. karten, diagramme, sturktur- und trendanalysen veranschaulilchen, was man mit dem vagen begriff alles anfangen kann.

unser forscherteam hat vier dimensionen der soziokultur identifiziert. und es hat jede dimension mit inhalten gefüllt: es interessieren der soziale status, die lebensformen und die individualisierung, die integration und fremdsprachigkeit und die alterssturktur resp. alterung einer gesellschaft. strukturen identifiziert man vor allem mit dem status und der alterung, während individualisierung und integration etwas über kulturen aussagen.

das geniale ist nun, dass so nicht nur der flüchtige begriff “soziokultur” konturen bekommen hat, sondern auch eine unglaublich detaillierte übersichten über räumliche disparitäten vorliegen. man weiss jetzt genau, wo die gebiete mit dem tiefsten status sind und der höchsten alterung. man kann sich dazu einzeln karten abrufen. man sieht so auch, wo die pluralisierung ausgeprägt und die individualisierung weit vorangeschritten ist

überraschende ergebnisse anhand von bfs-daten

wenig überrascht, dass städte ein besonderer ort des soziokulturellen wandels sind. erahnbar war, dass die (über)alterung in der region basel am grössten ist, und der status in der agglomeration zürich am höchsten ausfällt. hier ist auch die pluralisierung der kultur entwickelt, während die agglomeration genf den stärksten idividuallsierungsschub kennt.


soziokultur der schweiz: karte der individualisierung (bfs/sotomo)

verkleinert man die räume, die interessieren, rückt auch bern an die extreme:

. hoher status in der altstadt? – kaum.
. hoher grad an fremdsprachigkeit zwischen nydegg und bahnhof? – eventuell.
. überalterung des mittelalterlichen stadtbildes? – schon eher?
. individualisierung der lebensformen? – ausgeprägt!

die obere berner altstadt, die savoyerstadt, ist gesamtschweizerisch der am zweistärksten individualisierte lebensraum. und die untere altstadt folgt schon an vierter stelle. nur gerade das zürcher rathausquartier weiss noch einen höheren indexwert für die abweichung von traditionellen lebensformen auf.

die selbstgewählten lebensformen kommen vor allem bei den 30-50jährigen zum vorschein: wohngemeinschaften, partnerschaften ohne kinder oder “living-together-apart” sind drei typische formen, welche die sozialgeografen beim haushaltstyp identifiziert haben. individualisierung zeigt sich aber auch bei den rollenmodellen von mann und frau: der traditionellen trennung von erwerb und ernäherung stehen hier drei lebensformen mit erhöhter individualisierung gegenüber: modernisierte, bürgerliche familie mit teilzeitarbeit der mütter, vollerwerbseltern, die beide rund um die uhr arbeiten, und teilzeitererwerbseltern, die die paritätisch in die verschiedenen familienaufgaben teilen, gehören hierzu.

klar ist, dass sich diese entwicklungen zwischen stadt und land unterschieden. man kann denn auch festhalten, dass orte wie eischoll/unterbäch, baltschieder/lalden oder silenenen, das pure gegenteil von zürich-rathaus sind.

aber eben: auch die berner altstadt gehört zum einen extrem. der ausgeprägte postmaterialismus der hiesigen bevölkerung macht es aus. egaliltäre familienmodelle werden hier am häufigksten praktiziert, sehr hoch ist auch der wege-anteil und schliesslich gibt es einpersonenhaushalte wie nirgendwo sonst.

ansporn fürs kommende stadtwandern

wer glaubt, berns fassaden, zurecht bewundert und geschützt, würden etwas über die die heutige soziokultur der berner altstadt aussagen, der sieht sich massiv getäuscht. das fassadenbern ist schon längst unterwandert. die architektur der altstadt ist aus dem geist des späten 18. jahrhunderts und seither mit bewahrender tendenz nur leicht modernisiert worden. doch das gesellschaftlichen leben in den häusern hat sich massiv verändert. vor allem mit den alten kulturellen selbstverständnissen hat man gebrochen: es sind nicht mehr die patrizier, die bürger, oder die beamten, die der altstadt ihr soziokulturelles gepräge geben. es sind längst die individualisierten abweichlerInnen von traditionellen familien-, arbeits- und wohnmodellen, die hier eingewandert sind. unterwandert ist die altstadt, von der soziokulturllen modernisierern.


individualisierung der stadtwandererausrüstungen ist angesagt (foto: stadtwanderer)

merci, michael hermann, corinna heye und heiri leuthold, für eure erhellende einblicke hinter die fassenden, auf die auch ich immer wieder hereinfalle. eine klasse leistung, der ich vermehrt nachgehen will, als nun soziokulturell-aufgeklärter

stadtwanderer

soziokulturelle unterschiede in der schweiz. vier indizes zu räumlichen disparitäten, 1990-2000, bfs/uniz, neuchâtel 2005

starkermann, gottesmann, kriegermann

simson (griechisch: sampson, lateinisch: samson, symbol für sonne und licht) ist eine figur aus dem alten testament, die noch älter ist als könig david. seine zeit, das 12. jahrhundert vor christus, war bestimmt von israels kampf gegen die philister, ihren gefährlichsten gegnern. die philister bewohnten die küstenlandschaft am mittelmeer und waren den israeliten kulturell überlegen.


simpson bändigt den löwen – berner brunnenfigur aus der reformation (foto: stadtwanderer)

schon simsons geburt war ungewöhnlich: seine mutter war unfruchtbar, doch kündigt ein engel jahwes simsons kommen an. das verdeutlichte die geburt eines nasiräers, eines gott geweihten. doch anders als erwartet, verliebte sich der heranwachsenden simson nicht in eine israelin, sondern fortgesetzt in philisterinnen. auf dem weg zu seiner ersten geliebten besiegte er einen brüllenden löwen mit blossen händen, was seine besondere fraft demonstrierte und ihn berühmt machte.

die einzige frau simsons, die namentlich bekannt wird, ist delila. sie sollte jedoch nicht seine treue frau werden, sondern eine verräterin, die im namen der philister handelte. von ihnen wird sie bestochen, ihren mann zu überwältigen, denn simsons krafttaten waren für die philister eine gefahr.


der starke simpson wird schwach und erliegt seine liebe zu einer verräterin
quelle: wikipedia

unverzüglich versucht delila hinter das geheimnis der kraft simsons zu kommen. dieser aber durchschaut das spiel, und er führte sie dreimal in die irre: zuerst soll sie ihn mit sieben frischen sehnen fesseln, die er aber beim erscheinen der philister wie bindfäden zerreisst. danach sind es neue stricke, denen sich simson wie fäden erledigt. schliesslich nennt er seine sieben locken, die delila an einen webstuhl verknoten soll. doch auch hier befreit sich der held mit leichtigkeit. deshalb versucht es delila ein weiteres mal, und sie fordert ihren mann heraus:

„Wie kannst du sagen, ich liebe dich!, wenn mit dein Herz nicht gehört? Jetzt hast du mich dreimal belogen und mir nicht gesagt, wodurch du so grosse Kraft besitzt“, beklagte sich delila.

nach längerem drängen durch delila, offenbarte simson ihr alles. „Ein Schermesser ist mir noch nicht an die Haare gekommen; denn ich bin von Geburt an ein Nasiräer. Würden mir die Haare geschoren, würde meine Kraft mich verlassen; ich würde schwach und ware wie jeder andere Mensch.“


simson wird von den philistern überwältigt und geblendet
quelle: wikipedia

die verführerische delila lässt darauf simson auf ihren knien einschlafen. dann schneidet sie ihm die sieben locken ab und ruft die philister, die ihn, entkräftet, gefangen nehmen. sie stechen ihm die augen aus und bringen ihn nach gaza in gefängnis.

doch sein haar wächst auch in der gefangenschaft nach. als die philister in gaza ein grosses fest feiern, holen sie simson aus dem gefängnis, um ab ihm ihren spass zu haben. simson wird in den palast gebracht, wo sich 3000 fürsten der philister versammelt haben. blind wie er ist, lehnt er sich an die mittelsäule und spürt, wie seine kraft zurückgekehrt ist. er merkt, dass das seine gelegenheit ist, sich an den philistern zu rächen. er spricht ein gebet zu seinem gott und kippt mit seinen leibeskräften die säule um, sodass das haus einstürzt. die philister werden begraben, und auch simson findet dabei den tod.

die geschichte lehrte im alten testament, wie starke männer schwach werden, wenn sie von listigen frauen verführt werden. simson besiegt zwar einen löwen, doch unterliegt er in seiner liebe zu delila. sein schicksal hatte aber auch einen höheren sinn: die kraft jahwes war es, die ihn dazu führte, sich stets in eine philisterin zu verlieben. denn dies gab ihm auch einen vorwand, sich mit dem gegner zu streiten.


der gefangene simpson lässt den palast der philister einstürzen – und ist der erste stelbstmordattentäter der geschichte
quelle: wikipedia

in bern taucht simson gleich mehrfach auf. er findet sich auch an der fassade des rathauses, denn im mittelalter war simson eine der bliebtesten figuren aus der bibel. und er ragt über dem simpson-brunnen in der kramgasse, seit 1542 in der heutigen form bestehend. der bezug auf ihn, den löwenstarken helden, und moses, den gesetzgeber des volks israel durch die bernischen brunnenkunst, ist nicht zufällig: ganz bewusst wurde nach dem übertritt berns zur reformation der direkte anschluss an das alte testament gesucht. nicht zuletzt ist dies auch deshalb von bedeutung, weil sich im 17. jahrhundert, in bern ein reformiert-orthodoxer protestantismus entwickeln wird.

bis heute ist simson eine beliebte figur der kunst, der gestaltung und des films geblieben. seine deutung ist allerdings komplexer geworden: nicht mehr nur den helden des volkes sieht man in ihm; er gilt auch als der erste selbstmordattentäter der geschichte. aber er ist kein palästinenser wie heute, sondern ein israeli.

eben: starker mann, gottes mann, krieger mann.

stadtwanderer