erdöl-schock 1973 – und heute?

revolution in tunesien und ägypten, bürgerkrieg in lybien. was bedeutet das für uns? – eine erinnerung.

sriimg20060604_6779261_2es ist eine schwache, aber lebhafte erinnerung. die autobahnen waren leer. wir spazierten über brücken und sahen erstmals die weite der schnellstrassen durch unser land. denn kein lastwagen, kein personenwagen störte das bild.
fantasien kamen auf, was man damit alles machen könnte: rollshuhstaffeten, velorennen, oder gar die rückführung der strassen in natur wurden diskutiert.

erinnert wird hier an das jahr 1973. den ölschock. ausgelöst durch den jom-kippur-krieg, den aegypten und syrien gegen israel führten. der westen unterstützte die angegriffenen, die erdölfördernden staaten reagierten mit der drosselung von erdöl, um den westen in schach zu halten.

als erste massnahme führte man vier (?) autofreie sonntag ein. die bildeten die unterbrechung des rhythmus, an den man sich mit jeder eröffnung eines stücks autobahn immer unweigerlicher gewöhnt hatte. so wollte man energie, das erstmals zu einem knappen gut wurde, sparen.

ob das wirtschaftliche etwas genützt hat, zweifelt man heute. im sinne der politisierung war der einschnitt wirksam. auf der einen seite setzten wird und mit arabischen staaten auseinander, damals vor allem aegypten und saudi-arabien. beide genossen in der folge einen schlechten ruf. auf der anderen seite eroberte die vorstellung der grenzen des wachstums unser denkvermögen. vorher hatte ich glaube ich nie gehört, dass erdöl endlich sei.

im nachhinein ist es einfacher abzuschätzen, was der erdölschock von 1973 alles auslöste: zum beispiel die suche nach anderen energiequellen wie der kernenergie, aber auch erneuerbarer energieträger. müll(wieder)verwertung kam auf, genauso wie die diskussion über wärmedämmung. ja, selbst solch einschneidende massnahmen wie die einführung der sommerzeit kamen auf. im ersten anlauf wurde dies in einer volksabstimmung abgelehnt, aus ökonomischen gründen von der politik dann doch eingeführt. auf der anderen seite ist die inflation in folge steigener energiepreise ein thema. massnahmen gegen die verringerte kaufkraft wurde zu einem zentralen thema der politik. erfolgreich eingeführt wurde in der schweiz ein preisüberwacher. schliesslich änderte man die ganze geldpolitik, die darauf ausgerichtet war, die teuerung in den griff zu bekommen.

warum ich mich heute erinnere? – bei meiner morgendlichen schoggi vor dem gang in die stadt, habe ich in den zeitungen gestöbert und die neuigkeiten aus spanien gelesen. wegen den steil ansteigenden treibstoffpreisen, darf man ab nächster woche nur noch 110 stundenkilometer auf den spanischen autobahnen fahren 15 prozent des erdöls und 11 prozent des diesels will man so sparen. für spanien, das seinen energieverbrauch extrem durch importe deckt, scheint das unentbehrlich.

und selbstredend frage ich mich, ob das bald auch in der schweiz ein thema wäre. zum beispiel des angelaufenden wahlkampfes. dem stadtwanderer wäre es recht, wenn er mit seines gleichen auf den strassen mehr platz bekäme.

stadtwanderer

frauen in politischen ämtern: höhepunkt in den städten überschritten

1993 löste die nichtwahl von christiane brunner in den bundesrat eine welle aus, von der frauen bei wahlen profitierten. ihre untervertretung verringerte sich sukzessive. doch seit einiger zeit ist wieder gegenteiliges feststellbar.

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im bundesrat hat es seit neuestem vier frauen. damit ist die mehrheitlich der sieben mitglieder weiblich. die statistik der schweizer städte von 2011 weist nach, dass ähnliches in den städten bern, lyss, und zofingen der fall ist, sowie in muri bei bern als prominentestem vorort. alles in allem sind es orte im weiteren umfeld von bern.

das alles darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die zahl der stadtexekutiven ganz ohne frauen grösser ist. in verschiedenen westschweizer gemeinden wie mancy, vernier, thonex und versoix kann man das mit der eigenheit in verbindung bringen, dass die regierungen nur drei mitglieder zählen. in wetzikon, bülach, wohlen, rorschach und st. moritz gibt es jedoch sieben mitglieder, und alle sieben sind männer. vergleichbares findet sich in davos, ebikon, oftringen, prilly und val-de-travers, wo die stadtregierung fünf mitglieder zählen und keine frau dabei ist. etwas schematisiert kann man sagen, männerbastionen in stadtregierungen kommen in der ost- und zentralschweiz am ehesten vor.

abstrahiert man von solchen regionalen eigenheiten, interessieren die grossen entwicklungslinien in der vertretung von frauen in stadtbehörden. da die schweizer stadtstatistik seit den 80er jahren konstant erhoben wird, eignet sie sich auch, um einen zeitgeschichtlichen überblick in dieser hinsicht zu geben.

das jahr 1993 ist das entscheidende, für die frauenvertretung in den städtischen exekutiven. unschwer erkennbar ist der zusammenhang mit der nicht-wahl von christiane brunner in den bundesrat. vor allem in den grossen städte führte der so ausgelöste effekt zu einem sprunghaften anstieg von frauen ist stadtregierungen. 1994 wurde ein rekordwert verzeichnet, der seither nicht mehr erreicht worden ist. die auswirkungen auf die mittelgrossen städte waren bescheidener, aber nachhaltiger, und in den kleinen städten ging es bis 1998, bis ein wendepunkt erreicht wurde.

fast alle indikatoren zeigen, dass der höhepunkt bei der frauenvertretung zwischen 2006 und 2008 erreicht wurde, seither verlaufen die mittelwerte rückläufig, ausser für die kleinsten städte. oder anders gesagt: frauen haben es wieder schwerer, an den massgeblichen stellen der stadtpolitik einsitz zu nehmen.

ähnliches lässt sich auch beim wichtigsten vergleichsindikator, dem frauenanteil in stadtparlamenten, sagen. auch hier bildeten die grossen städte lange den lead, als es aufwärts ging. und bei ihnen wurde 2007 der höchste wert gemessen. seither verringert sich die zahl der frauen in den stadtparlamenten wieder leicht. das gilt auch für die mittelgrossen städte, wo der kippunkt 2006 war, während es nicht sicher ist, ob die trendwende in den volksvertretungen der kleineres städte schon eingetreten ist.

auf jeden fall kann hier eines klar festgehalten werden: die letzten 3 bis 5 jahre brachten nur noch in einzelfällen eine verbesserte frauenrepräsentation in den stadtbehörden. mit der entwicklung der grundstimmung richtung konservative grundhaltung gehen auch die wahlchancen von frauen in regierungen und parlamente zurück. wenn das selbst in den städten der fall ist, und das insbesondere bei den trendsettern, ist von auszugehen, dass sie gleich auch in den agglomerationen und auf dem land abzeichnet oder schon der fall ist. das wäre dann auch ein fingerzeig, was am grossen wahltag im herbst passieren kann!

stadtwanderer

über die grenzen des wachstums denkt man nach, wenn man wachstum hinter sich hat.

der umweltsurvey 2007, erstellt von der eth zürich, ist die wohl umfassendste, aktuelle standortbestimmungen zum umweltbewusstsein in der schweiz. ich habe ihn mir genauer angesehen, um mehr über die gesetzmässigkeiten zu erfahren, unter welchen bedingungen wir uns der naturprobleme bewusst werden und was seine zukunft des umweltbewusstseins ist. (m)eine kleine umweltgeschichte – dritter teil.

41H23CGPXTL._SL500_AA300_epochemachender bericht des club of rome – zwischenzeitlich mit dem umweltsurvey schweiz hinsichtlich seiner wirkungen hierzulande untersucht.

umweltbewusstsein, sagen die autoren des jüngsten umweltberichts unter dem soziologen andreas diekmann, ist eine einstellung, bestehend aus einer verstandesmässigen und einer gefühlsmässigen komponente. es geht um angst oder empörung, aber auch um kenntnisse von zusammenhängen zu umweltfragen, die zu bewertungen führen.

die umweltsoziologien schlugen schon in den 90er jahren vor, umweltbewertungen anhand dreier indikatoren zu festzustellen: erstens, der bereitschaft zu einschränkungen des lebensstandards, zweitens der zustimmung zem vorwurf, die politik tue zu wenig für die umwelt, und drittens der akzeptanz von arbeitsplatzverlusten zugunsten von umweltfortschritten. ihre untersuchungen hierzu zeigen im zeitvergleich, dass die beiden ersten meinungen mehrheitlich geteilt werden und zeitlich stabil sind, während letzteres nur eine minderheit gut findet, die über die zeit hinweg eher abnimmt.

emotional stabilisiert werden solche bewertungen durch verbreitete gefühle wie der angst, auf eine umweltkatastrophe zuzusteuern und der sorge, den kindern eine verschlechterte umwelt zu hinterlassen. beides ist verbreitet, während das empörungspotenzial durch medienberichte einiges geringer ausfällt. das geht einher mit wahrnehmungen der grenzen des wachstums, aber auch der vermutung, die anderen mitmenschen würde zu wenig für die umwelt tun.

in ihrer umfassenden analyse des wandels des umweltbewusstseins unter schweizerInnen schreiben die autoren des umweltsurveys: “Die Grundeinstellung zum Umweltproblem, die affektive Komponete, ist relativ stabil geblieben. Gewandelt haben sich aber Einstellungen über Zusammenhänge und die Bereitschaft, finanzielle Einschränkungen zugunsten der Umwelt zu leisten. Bedingungsloser Optimismus gegenüber der Wissenschaft als Lösung der Umweltprobleme ist ebenso wie der Pessimismus zu den schädlichen Auswirkungen des Wirtschaftswachstums einer pragmatisch-nüchternen Betrachtungsweise gewichen.”

in ihren vertiefenden ausführungen weise die forscher auf weiterhin vorhandene unterschiede des umweltbewusstseins im links/rechts-spektrum, aber auch zwischen frauen und männern hin. sie halten auch beschränkt unterschiedliche vorstellungen nach bildungsschichten fest. die sprachregionalen eigenheiten, die in den 90er jahren noch wichtig waren, sind weitgehend verschwunden.

das spannendste an der gegenwartsanalyse zum ökodenken sind die zusammenhänge mit anderen einstellungen: die soziologen weisen nach, dass umweltbewusstsein die entscheidungen zu umweltpolitischen forderungen recht stark beeinflusst, aber einen nur mässigen einfluss auf das umweltverhalten hat. dieses wird nicht nur durch innere faktoren der menschen besitmmt, auch durch äussere, sprich angebote und anreize. die wichtigste erkenntnis zur gegenwart betrifft aber die faktoren, die neues umweltbewusstsein fördern. der forscher schluss ist hier, dass weiteres umweltwissen keine weiteres umweltbewusstsein mehr herstellt. oder anders gesagt: wir sind, informationsmässig gesättigt, wenn es darum geht, wie wir über die umweltprobleme denken. es kann nur gezeigt werden, dass das umweltwissen beschränkt positiven einfluss auf das umweltverhalten hat.

oder plakativ gesagt: energiewerte und bio-kennzeichungen auf produkten haben die grösseren chancen, unser handeln zu verändern, als eine infokampagne zur biodiversität. diese wiederum darf kein volkshochschulkurs sein, der nur wissen vermittelt; sie muss betroffenheiten schaffen, das heisst uns bewusst machen, was die gefahr ist, dass wir unsere meinungen ändern.

übrigens: die hier besprochene untersuchung zum umweltbewusstsein im wandel der eth zürich spricht davon, dass das umweltbewusstsein in der schweiz global gesehen wohl am höchsten ist. es folgen nationen wie japan, die niederlande, dänemark und finnland. generell kann man festhalten: die höhe des wohlstands ist ein guter indikator für die ausbreitung von umweltbewusstsein. in den worten der soziologen: weil die restriktionen einer veränderung zugunsten von natur, tier und mensch, am gerinsten sind.

das sollten sich die ökologInnen merken, wenn sie eine vollangriff auf den wohlstand machen. ökonomisches wachstum ist nicht nicht das einzige, was lebensqualität schafft, füge ich bei. es ist aber eine voraussetzung dafür, dass man über die grenzen des wachstums nachzudenken beginnt.

stadtwanderer

die umweltbewegung: von der neuen sozialen bewegung zum teil der globalen mediengesellschaft

in den 80er jahren entstand die umweltbewegung als der teil der neuen sozialen bewegung. die abgrenzung zu den gewerkschaften als alter sozialer bewegung war entscheidend. heute entkoppeln sich das lokale und globale zusehends, und die umweltaktivitäten werden zum teil der globalen mediengesellschaft. (m)eine kleine umweltgeschichte – zweiter teil.

am 1. august 1983 sammelte die nationalspende für das baumsterben. ein paar gebiete in der schweiz seien von diesem problem betroffen, sagte man mir anderntags erklärten mitarbeiterInnen einer eidgenössischen forschungsanstalt, unsere wälder seien schwer krank. der wald sterbe.

jetzt malten kinder malten bilder mit sterbenden bäumen, umgefallenen wäldern, verendeter natur. die apokalypse war kein zukunftsthema mehr, sie fand plötzlich in der ist-zeit statt. die erschreckten eltern diskutierten, ob sie etwas falsch gemacht hatten, aufs autofahren verzichten sollten, inskünftig den oev benutzen müssten.

diese gesellschaftliche debatte erreichte rasch die politik. im herbst ‘83 standen parlamentswahlen an. und die beratungen des umweltschutzgesetzes waren in der schlussphase. menschen, tiere und pflanzen sollten damit geschützt werden. lebensräume sollten vor schädlichen oder lästigen einwirkungen bewahrt werden. die fruchtbarkeit namentlich des bodens sollte wieder gefördert werden. das wirkte die nachricht vom waldsterben wie eine bombe.

am 7. oktober 1983, rechtzeitig vor den wahlen, verabschiedete man das umweltschutzgesetz. damit wurde auch die verbandsbeschwerde auf eine neue basis gestellt. in den 60er jahren eingeführt, entwickelte sich das instrument zum dreh- und angelpunkt der interventionsmöglichkeiten für umweltverbände.

in meinen kursen zur schweizer politik am medienausbildungszentrum in luzern diskutierten wir zwischen 1986 und 1990 das fallbeispiel regelmässig. agenda setting, ein begriff des amerikanischen medienforschers bernhard cohen, leitete unsere debatten zu aktiver medienöffentlichkeit und institutioneller politik. anders als in früheren wirkungsuntersuchungen, unterschied cohen zwischem dem, was die medienrezipienten denken, und worüber wir denken. ersteres lasse sich durch medien kam beeinflussen, zweiteres schon.

das passte zum zeitgeist. journalistInnen verstanden sich als speerspitze im wertewandel. aufmerksam machen auf das, was ist, aber verkannt wird, war die verbreitete losung. 1987 propagierten ein dutzend prominente medienschaffende, politikerInnen und professorInnen die “hoffnungswahl” in buchform. in allen fortschrittlichen parteien sollten die ökologisch ausgerichteten, bisherigen und neuen bewerberInnen gefördert werden.

das ergebnis der nationalratswahl hinterliess eine perplexe avantgarde. zwar legten die grünen wie schon 1983 zu, doch gab die autopartei, bis dahin unbekannt, erstmals gegensteuer. die rechtskurve wirkte sich bin in meine kurs aus. die studierenden wollten jetzt mehr über die migrationsfrage erfahren als über die ökoproblematik.

das alles war symptomatisch: die umweltfrage wurde in den 80er jahren zur partei. grüne und rote nahmen sie willig auf, provozierten damit aber eine antietatistische gegenreaktion. die autopartei forderte freie fahrt für freie bürger. die automobilindustrie kritisiert das waldsterben, die bürgerlichen parteien setzten unverändert auf wirtschaftswachstum, und unterschieden zwischen technischem und ideologischem umweltschutz. zwischenzeitlich spricht man schon von verwaldung des schweizer mittellandes.

heftig politisiert wurde die verbandsbeschwerde der umweltverbände 20 jahre nach ihrer etablierung im umweltschutzrechtes. 2004 kam es zum eklat, als der zürcher vcs nach einem volksentscheid zu einem sportstadion mit einkaufszentrum eine exemplarsiche verbandsbeschwerde durchzog. das war gewagt, denn der volkswille ist den schweizern heilig. die ökoaktivistInnen wurden öffentlich als ökofundis beschimpft. die svp nahm den ball auf und setze im verbund mit den bürgerlichen parteien im parlament eine einschränkung des verbandsbeschwerderechts durch.

mit dem sogenannten schabernak aus den 80er jahren aufräumen wollte die fdp des kantons zürich. sie lancierte eine nationale volksinitiative, um das verbandsbeschwerderecht weitgehend zu kappen. vorgeworfen wurde den umweltorganisationen, zu bauverhinderen geworden zu sein. diese verwiesen darauf, dass die mehrheit ihrer beschwerden ganz oder teilweise gutgeheissen werde. das stimmvolk stellte sich schliesslich auf ihre seite. 2008 sagten 66 prozent der stimmenden in der volksabstimmg nein, alle kantone waren dagegen.

doch hat sich der kampf um die umwelt auf die globale ebene verlagert. internationale organisationen analysieren den zustand der luft, des bodes und des wassers. sie legen werte und ziele der politik fest. sie entwickeln programme des handelns. globale akteure nehmen relevanten einfluss auf das, was in der klimapolitik geschieht. al gore war der gegenspieler von georges w. bush. die erdölindustrie ficht gegen die greentech-branche. und die weltweiten medien entscheiden, ob wisenschaftssymposien oder uno-konferenz erfolg haben oder nicht.

in den 80er jahren entwickelte sich die neuen sozialen bewegungen in abgrenzung zu den alten sozialen bewegungen. heute mutiert die umweltbewegung vom lokalen akteur zum globalen netzwerk, die spezialistInnen der medienarbeit hat, lobbying in der uno und in der stadt betreibt, und grassrouts-aktionen im richtigen moment mobilisieren kann.

nicht zu unrecht spricht man in diesem zusammenhang von emergenz. denn es ist nicht mehr die kinderzeichnung aus betroffenheit, die mobilsiert, sondern das globale strategiepapier, das lenkt. umweltprobleme sind vielerorts real, ihre verhandlung entsteht aber aus der medienweltgesellschaft heraus. dabei sind die ergebnisse immer weniger vorhersehbar, entfalten sie sich aus der aktion selber heraus. den lokalen aktivistInnen hilft das gegelegentlich, gelegentlich schadet es ihnen.

stadtwanderer

mein baum. mein ärger. meine analyse.

im entscheidenden moment kannte ich ihn noch nicht. als ich seine bücher las, wurde mir klar, warum trotz vielen enttäuschungen meinen affinitäten zu ökologischen umstellungen bewahren werde. (m)eine kleine umweltgeschichte, erster teil.

buchs_agstandort meines baumes, bevor er dem autobahnzubringen weichen musste.

ronald inglehart ist ein lebender amerikanischer sozialforscher. er wirkt als professor für politikwissenschaft an der university of michigan – einem eldorado für empirische forschung.

sein erstes bekanntes buch trägt den namen “the silent revolution”, 1977 auf englisch erschienen und in unzählige sprachen übersetzt. eine der zeitgenössischen ruhigen revolutionen ist für inglehard der wertwandel im übergang von industriellen zu postindustriellen gesellschaften. postuliert wurde, dass materialistische durch postmaterialistische werthaltungen abgelöst würden.

wenn in einer gesellschaft bedürfnisse nach versorgung und sicherheit gewährleistet seien, entwickelten die menschen neue ansprüche, las ich da: solche der anerkennung und der selbstverwirklichung.

prägend sei nicht, was man habe, sondern was man nicht habe. denn danach strebe man. das gelte vor allem für das, was man in der jugendzeit nicht gehabt habe. das präge das weltbild, die werthaltungen des individuum – ein leben lang. wenn es die werte eine ganzen altersgruppe bestimme, liessen die mangelgefühle in den formativen jahren eine neue generation entstehen.

bei mir war es, was ich nicht mehr hatte: meinen baum! auf den ich als junge unzählige male geklettert war. er stand neben dem friedhof bei dem wir in buchs, aargau, wohnten.

als man beschloss, einen zubringer zur neu gebauten autobahn zu erstellen, nahm man auf gar nichts rücksicht. weder auf den friedhof, noch auf meinen baum. dieser wurde mit motorengehäul gefällt, genauso wie die grabesruhe für immer verschwand.

ich war ausser mir, zuerst wütend, dann traurig. denn mit dem baum entsorgte man auch einen teil der jugenderinnerungen. mein versteck in der astgabel, meine heimat in einsamen momenten, mein abenteurplatz, wo sich die gleichaltrigen an schulfreien nachmittagen rauften.

ich war knapp zwanzig, als man für eine volksinitiative unterschriften sammelte. in meiner erinnerung hiess das begehren “demokratie im nationalstrassenbau”. offiziell hatte die sache eine umständlicheren namen: volksinitiative «für die vermehrte Mitbestimmung der Bundesversammlung und des Schweizervolkes im Nationalstrassenbau» steht im amtsblatt. verlangt wurde, dass die politik, ja die bürgerInnen in sachen strassenplanung mehr zu sagen bekommen sollte. das wurde umgehend zu meinem programm.

an der uni hörte ich kurz danach vom wertkonflikt, der mit neuen sozialen bewegungen aufbreche. zu diesen zählte der dozent die umweltbewegungen. und ihre wichtigste analyse, die ich den soziologie-veranstaltungen kennen lernte, war die untersuchung von inglehart.

das alles machte mir mut. vielleicht war ich ja nicht der einzige, der sich innerlich empört, wenn man bäume fällt. vielleicht hatten andere in meinem alter ähnliche erlebnisse gehabt. vielleicht, so hoffte ich, seien wir viele.

inglehard zählte jüngere menschen und höhere bildungsschichten zu den vorreitern des postmaterialistischen wertwandels. er ging davon aus, sie würden immer mehr werden, wenn dank wohlstand versorgung und sicherheit für immer mehr menschen gewährleistet werden könnten. das verhiess gutes. denn es würden sich mit sicherheit immer mehr menschen finden, die auf der suche nach einem anderen leben seien.

der 26. februar 1978 brachte dann eine gewaltige ernüchterung. meine initiative, an die ich so geglaubt hatte, weil sie wenigstens nachträglich ein wenig für umweltgerechtigkeit sorgen würde, wurde an diesem sonntag versenkt. keine 39 prozent dachten so wie ich. kein kanton war dafür. im aargau war man sogar überdurchschnittlich stark dagegen.

seither weiss ich: die postmaterialistInnen sind eine fordernde minderheit, machen keine mehrheit aus. ob die postmaterialistInnen je in der mehrheit sein werden, glaube ich nicht, bezweifelt heute auch die sozialforschung.

erfolg haben sie nur, wenn sie das naturempfinden breiter kreise miteinbeziehen. zum beispiel beim schutz der hochmoore oder beim alpenquerenden verkehr.

denn die berge sind und bleiben für viele ein tabu. aus ehrfurcht, aus angst, aus freude, aus stolz. im mittelland ist davon nicht geblieben. es wächst die zivilisation in die natur hinaus. und wenn sich aktive umweltschützerInnen quer legen, ernten sie nur kopfschütteln.

mehrheit ist mehrheit, weiss ich nur zu gut. seit der lektüre der bücher von ronald inglehart weiss ich aber auch, dass ich mein leben lang aufrecht zu meiner minderheitsmeinung stehen werde.

stadtwanderer

die vox-analyse des landwanderers

eine tolle diskussion, die am sonntag mit dem aufgerissenen güllengraben entstanden ist. der stadtwanderer ist zum landwanderer geworden, und hat seine eigene vox-analyse zum abstimmungssonntag gemacht.

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je mehr rot drauf, desto mehr schweizerkreuz drin! gemeindekarte der abstimmung zur waffen-initiative

“angefangen hat es, wie bei so vielen anderen sachen, mit der abstimmung über den ewr. die schweiz solle dem eu-vorhof betreten, entschied der bundesrat. doch die stimmbürger/innen machten nicht mit. die traditionalisten waren gegen die modernisten. die alten gegen die jungen. die einfachen leute gegen die studierten. und das landvolk gegen die städte.”

“die städter verstehen uns nicht. sie wollten die bilateralen, den uno-beitritt, die personenfreizügigkeit, die abkommen von weiss ich wo, und sie waren bereit, den ehemaligen ostblockstaaten von unserem geld zu schicken. immer bekamen sie vom fehlgeleiteten souverän recht, denn die städter furchteten, von der eu drangsaliert zu werden.”

“städtische unsitten muss man heute als sogannte zeichen des fortschritts ertragen, mutterschaftsgelder bezahlen, schwule väter akzeptieren und kindstötungen vor der geburt zulassen. alles nur wegen den städtern!”

“als es um die ausländer ging, revanchierten wir uns erstmals. von denen wimmelte es ja in der stadt. und da sollten sie nur bleiben. erleichterte einbügerungen für secondos überall – sicher nicht. minarette auf dem dorfplatz – garantiert ohne uns. und gesetzesbrecher durchfüttern – undenkbar. sorry, ihr städter, die gehören ins flugzeug und weg damit.”

“wir sind stolz auf unsere tiefen steuern. denn wir haushalten sparsam. dulden keine bürokratie. und auswärtige einsprachen brauchen wir schon gar nicht. denn für umweltschutz sind nicht die, die naturnah leben, sondern die, die auf ihrem überdimensionierten ökologischen fussabruck steht.”

“natürlich, für die arbeit, da muss man in die stadt, und bezahlt man sich heute schon dumm und dämlich, egal ob automobilist und zugfahrer. genau dafür soll man bald noch mehr blächen müssen, meint die leuthard. wie gummistiefel riechen, weiss sie ja schon. und ihr wahlkampfspezi erfährt es, wenn er noch einmal sagt, wer auf dem land lebe, sei ein subventionsfetischist.”

“da lese man doch einmal die schriften vom famosen bundesamt für raumplanung. konzentration der investitionen auf die infrastruktur in den zentren. die leute aus dem lokalen zeughaus können ein lied davon singen. die bauern auch. überhaupt, die hasst man in den denkfabriken der städter. der föderalismus ist passé, steht über dem pult des direktors von avenir suisse.”

“jawohl, jetzt ist tradition suisse ist angesagt! genau darum lassen wir uns von joe lang und der galladé nicht entwaffnen. nicht einmal die untertanen der alten orte mussten ihr gewehre abgeben. und ihre lokalen sitten und bräuche wurden toleriert. selbst das haben uns die stadtdiktatoren heute weggenommen. um es in brüssel gegen mamom einzutauschen, was sie uns zwar nicht sagen, wir aber schon lange wissen.”

“wir haben es ihnen mit der münze heimgezahlt, mit der sie uns so lange über den tisch gezogen haben. jetz ist fertig, schuss!”

landwanderer

der populismus der populisten

spaziergang über mittag. das wetter war so wunderbar. vorbei ist die deprophase aus dem januar. beschwingt nahm ich die weltwoche von heute in der hand. henner kleinewefers, vormals professor für oekonomie, versucht sich darin als als populismus-analyst. ich widerspreche.

populi8in einem gehe ich mit dem emeritierten freiburger ökonomen einig. der verdacht der marxistischen politanalysen, der populismus führe per staatsstreich automatisch zu bonapartismus und der ebenso zwangsläufig zu faschismus ist historisch gesprochen widersinnig. ich gehe noch weiter: die unterstellte entwicklung verstellt sogar den blick auf das, was den populismus heute sozialwissenschaftlich so interessant macht.

treffend analysiert wird der populismus der gegenwart meines erachtens durch hans-jürgen puhle, frankfurter historiker und politologe. er spricht von einem neuen design-populismus in der mediendemokratie. das ist ein neuartigker politikstil, der sich auch in etablieren demokratien gut eingenistet hat, ohne diese ausser kraft zu setzen.

vordergründige symptome dafür sind die politische sehnsucht nach leadership und das madiale verlangen nach führungszentrierter politik. so werden spitzenpolitikerInnen zu dominatorInnen öffentlicher debatten, und es paart sich ein ideologischer fundamentalismus mit einer pragmatischen behandlung des augenblicks. zu der gehört ein kräftiger schuss an kontinuierlicher medialer empörung, um in stimmung zu kommen, die alles abweichende stigmatisiert, ja ausgrenzt.

die politologischen analysen, die mit diesem verständnis in jüngster zeit betrieben worden sind, fördern fünf eigenschaften des gegenwärtigen populismus’ zu tage:

. erstens, traditionelle parteien, interessenbezogene verbände und der staat verlieren an bedeutung, was zur propagierung zivilgesellschaftlicher alternativen durch populisten führt.
. zweitens, mobilisiert wird von populisten gegen die globalisierung, verstanden als machtkartell, begründet durch neoliberale politik, gelegentlich auch gepaart mit linke sukkurs.
. drittens, gefeiert wird durch populisten ein antimodernismus, mit dem man sympathien unter den verliererInnen in aktuellen transformationsprozessen sammelt.
. viertens, überlebensfähig sind catch-all parties, die den zusammenhalt ihrer vielschichtigen anhängerschaft gewährleisten, indem sie permanent den nerv der zeit suchen, treffen und inszenieren.
. fünftes, auswirkungen hat dies namentlich auf die campaigning-politik, die mit neuen medien getrieben wird, von der glaubwürdigkeit zentraler führungspersonen lebt, welche die sachfragen vorgeben, die zu behandeln sind.

populismus ist nicht unbedingt an eine politische ideologie gebunden. in europa zeigt er eine nähe zu rechten parteien, namentlich in lateinamerika findet sich das umgekehrte. da kommt die politologische analyse der ökonomischen wieder näher. anders als diese versteht sie populismus aber nicht als autochtone bewegung politisch enttäuschter mittelständler gegen die eliten. vielmehr sieht sie darin eine bewusste mobilisierungstrategie der massen durch führungsstarke persönlichkeiten – in politischen ämtern oder auch ausserhalb -, um legitimiert durch das einen magischen bezug auf das volk auch in umbruchphase die eigenen interessen durchsetzen zu können.

der populismus ist also vor allem ein populismus der populisten. das schreibt die weltwoche selbstredend nicht. sonst müsste sie sich ja hinterfragen.

stadtwanderer

wie die wahlen 2011 ausgehen …

… weiss niemand. mit gutem grund: denn wahlergebnisse sind das produkt aus kurz- und langfristigen einflüssen auf die wahlentscheidungen. erstere werden immer schwieriger vorauszusehen. man kennt nur ihr profil, nicht aber das gewicht der komponenten.

wahlmodell
mein analyseschema, wie ich die wahlentscheidungen analysiere. links sind die lang-, rechts die kurzfristigen determinanten.

das wahlsystem ist in der schweiz seit 90 jahren konstant. die kantone bilden unverändert die wahlkreise. und die generellen konfliktlinien im parteiensystem sind nicht einfach verschwunden, aber aufgeweicht.

bei der cvp wirkt die tradition noch am meisten. eine mehrheit ihrer wählenden hat eltern, die cvp (oder kk) wählten. bei allen anderen parteien ist dieser anteil unter 50 prozent. oder anders gesagt, die meisten parteien müssen heute die wählenden dort finden, wo sie heute sind, nicht, wo ihre familie war.

insbesondere die medien, teilweise auch die schulen und die gleichaltrigen sind an die stelle der familiären sozialisation gerückt. parteibindungen prägt der schuluntericht, seine verarbeitung unter gleichaltrigen, die generationen mit einem spezifischen medienkonsum entstehen lassen.

lange glaubte man, die themen des wahlkampfes seien alleine entscheidend. die ökonomen unter den wahlanalytikern lobten die vernünftige entscheidung. man wähle, wer einem programmatisch am nächsten stehe. das damit verbundene menschenbild wurde heftig kritisiert. wählerInnen seien keine informationsverarbeitungsmaschienen; sie würden sich auch aufgrund ihres tierischen instinkts entscheiden, sagen namentlich psychologInnen.

das gilt namentlich gegenüber personen: im kleinen wahlkreis, wo man sich kennt; im grossen wahlkreis, wo die werbung auf gefühle gegenüber kandidatInnen setzt; und gesamtschweizerisch – oder wenigstens sprachregional – wo nationale medienstars, präsidentInnen und neuerdings wahlkampfleiter die parteiimages formen.

damit wird politisch realität durch medienrealitäten überlagert. diese behandelt parteien wie produkte, deren schwächen neuigkeitswert hat: der zwist im parteivorstand, das geld in kampagnen, die macht über die lokalpresse. die parteien nervt es, immer mehr mit ihrem fremdbild konfronitert zu sein, weshalb sie zur direktkommunikation via youtube greifen, oder werbung schalten, wo sie ein positives umfeld bekommen. das alles kostet geld, und wer es für wahlen ausgibt, gerät in verruf. die negativspirale scheint auswegslos.

angesichts der veränderungen in den parteistärken sind auch schweizer parlamentswahlen zu indirekten bundesratswahlen geworden. die machtfragen werden wieder unverholen gestellt: soll die schweiz ein neues regierungssystem erhalten mit verringerter konkordanz, ist zum beliebten expertenthema geworden. wer zurücktreten soll, ist die hauptfrage der sonntagspresse. und zwischenzeitlich interessiert die bürgerschaft wieder, welche parteien regierungswürdig sind – und welche nicht.

mobilisierungsstrategien sind heute wichtiger als den einen oder die andere wechselwählerIn zu gewinnen. profitiert hat davon die svp, die lange auf polarisierung gegen links setzte, heute eher hegemonial agiert. chancen haben auch neuen parteien, die ohne lange geschichte, dafür mit grosser frische auftreten können. so sind die wichtigsten regierungsstützen gegenwärtig in der defensive. nutzen könnten die aufgezeigten mechanismen jedoch alle, wenn sie selber auf langfristige themenarbeit setzen würden, kurzfristige interventionsgabe zeigten, und ihre politik mit erkennbaren werten und glaubwürdigen personen kommunizieren könnten.

die zentrale frage in heutigen wahlkämpfen lautet: wer ist der treiber, wer sind die getriebenen? die höchste schule ist es, als partei oder kandidatIn massgeblich zu bewegen. die zweithöchste ist es, was auch immer geschieht, es zu seinem eigenen vorteil deuten zu können. ganz nach dem motto: das ziel aller wahlkämpfe ist es, selber im zentrum zu stehen.

womit wir von den langfristigen stabilisatoren zu den ganz kurzfristigen destabilisatoren der wahlentscheidung gewandert wären.

stadtwanderer

wie 2007 der svp-wahlkampf alles dominierte, das wichtigste aber unterschätzte

das parteiensystem der schweiz nationalisieren sich, dozierte politologe pascal sciarini 2007 bei jeder gelegenheit. wenn ein genfer professor das sagt, dann muss es stimmen. denn normalerweise hört man argumente aus der rhone-stadt, in der romandie oder auf jeden fall in genf sei alles anders als in der schweiz.

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symptomatisch für die wahlen 2007: alle blicke sind auf die svp, ihre themen, ihre repräsentanten gerichtet.

die nationalisierung der parteien war bei den letzten wahlen jedoch ungleich weit fortgeschritten. die cvp, aber auch die fdp verharrten weitgehend in ihren föderalistischen strukturen. sie gaben entsprechend den uneinheitlichsten eindruck ab. sp und grüne waren in den städte gut koordiniert, auf dem land aber kaum präsent.

am radikalsten ausgefallen ist die nationalisierung bei der svp. sie hat keine wirklichen hochburgen mehr, vielmehr hat sie die schweiz zu ihrer hochburg gemacht. die situation in den kantonalparteien bleibt zwar divergent, doch die vorgaben macht die nationale partei. “wir führen die partei wie eine marke: einheitlich, wertorientiert, mit erkennbarer emotion”, heisst es regelmässig aus dem nationalen parteisekretariat.

mit erfolg: in allen kantonalen parlamenten kam die svp 2007 auf 23 prozent der sitze. im nationalrat steigerte sie sich auf 32 prozent. oder anders: bei nationalen wahlen ist die partei erfolgreicher als bei kantonalen. vor allem wegen ihrer neu entdeckten mobilisierungskraft.

das hat mit campaigning zu tun: damit ist nicht einfach eine superkampagne gemeint, sondern der permanente wahlkampf. campaigning beschreibt das kommunikative verfolgen von konstant gehaltenen zielen, selbst wenn die relevanten arenen wechseln. campaigning ist es, was einer partei ein unverwechselbares gesicht gibt, in ausgewählten themen, mit wiederkehrenden repräsentantInnen und mit einer übergeordneten ideologie.

das war lange auch bei der svp nicht der fall. 1991 noch unterschied sie sich organisatorisch nicht von den anderen parteien. seither ist eine partei neuen typs entstanden. die svp entwickelte sich zur gut geführten wählerorganisation, die koordiniert zielgruppenspezifische ansprachen vornimmt: mal geht es um das “volk”, dann um “landwirte” und “gewerbetreibende”, schliesslich um “frauen, die sich von muslimen bedrängt” oder um “akadamiker, die durch deutsche konkurrenziert werden”.

das geht nicht ohne medien: die bleiben in ihrem selbstverständnis svp-kritisch, entwickelten aber verschiedene svp-affinitäten: der auttritt ihrer protagonisten sichert quoten, ihre streitkultur schafft anschlusskommunikation, und ihre themen tendieren dazu, die vorrangigen des wahlkampfes zu sein. zudem weiss die svp mit ereignissen wie dem geheimplan medienhypes zu schaffen, die dann werberisch verstärkt werden. und so gilt: wer mit der svp ist, ist auch ein wenig beim gewinner!

2007 führte die erste partei der schweiz vor, was das alles heisst: mit dem berühmt gewordenen schäfchenplakat setzte man das thema der ausländer, die kriminell seien und ausgeschafft gehörten, und mit dem motto “svp wählen – blocher stärken” stimmte sie das land auf die scheinbare hauptfrage des wahlkampfes ein.

einen fehler machte die svp 2007 bekanntermassen: am schluss glaubte sie selber an die von ihr geschaffene mediale kunstwelt. ihr wahlerfolg im nationalrat, beschränkt auch im ständerat, bestärkte sie, nicht nur die wahlsiegerin zu sein, sondern auch jedwelche vorgaben machen kann. das war ein trugschluss, denn es gab eine mehrheit auch ohne die svp. und diese formierte sich, als alle an die volkswahl christoph blocher glaubten, jedoch übersahen, dass es die 246 frisch gewählten parlamentarierInnen sind, welche den bundesrat wählen.

wie 2003 die machtfrage gestellt und bisher nicht wirklich beantwortet wurde

19. oktober 2003, 19 uhr 30: in der tagesschau des schweizer fernsehens kommentiert ueli maurer, svp-präsident, den neuerlichen sieg seiner partei bei den nationalratswahlen. er forderte einen zweiten sitz für die svp – damit hatte man gerechnet. der solle durch einen vertreter der neuen svp-linie eingenommen werden – auch das hatte man erwartet. ihr einziger kandidat sei christoph blocher – da waren fast alle überrascht!

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wahlsieger 2003 unter der bundeskuppel: svp und fdp – die übersehen, dass die parlamentswahlen keinen rechtsruck, vielmehr die bisher grösste bi-polarisierung zwischen den polparteien brachten.

ich stand unmittelbar neben maurer, als er die folgenreiche ankündigung machte. der svp-präsident wirkte ausgesprochen konzentriert, ja, restlos überzeugt, zum grössten coup in seiner parteikarriere anzusetzen. kein augenzwinkern war da, das auch nur den leisesten zweifel offen liess, das er scheitern könnte.

die mediale ankündigung der verlangten sitzverschiebung schlug wie eine welle ein, denn die svp wollte nicht nur führende kraft im bundesrat werden. sie missachtete auch das verbreitete wahlverfahren, das sich mit doppelkandidaturen bei bundesratswahlen eingebürgert hatte. und sie riskierte, den bisher zugkräftigsten oppositionsführer innerhalb der partei durch integration in eine kollegialbehörde zu verlieren.

ich gebe zu: lange hatte ich das christoph blocher nicht zugetraut, denn ich rechnete mit einem identitätsverlust für ihn und seine partei. dann schwenkte ich, glaubte fest, dass er die regeln der politischen kunst beachten würde; denn als unternehmer verhielt er sich insgesamt vernünftig. heute stelle ich fest: ich habe mich zweimal getäuscht. christoph blocher blieb im wesentlichen christoph blocher; dafür blieb er jedoch nicht lange bundesrat.

angesichts der dramatischen ereignisse übersah man das effektive wahlresultat der parlamentswahlen 2003 ein wenig. die bi-polarisierung der parteienlandschaft hatte ihren höhepunkt erreicht: die svp legte 4,1 prozent zu, doch grüne und sp gewannen ähnlich viel hinzu – wenn auch nur gemeinsam. wahlverliererinnen waren die fdp, die cvp und einige der kleinparteien. und: im ständerat geschah genau gegenteiliges. die sp machte am meisten sitze vorwärts, die svp wurde hier nur kleiner sieger. bezahlt hat die rechnung in der kantonsvertretung nicht die cvp, dafür voll die fdp.

die scharfe polarität zwischen links und rechts hatte mobilisiert, wie schon lange nicht mehr, und die ansprache neuer wählerInnen durch die polparteien hatte das parteispektrum auseinanderstreben lassen. die fdp kippte, rückte vom zentrum nach mitte/rechts, und propagierte schliesslich hansruedi merz als eigenen br-kandidaten. um ihre institutionelle macht zu wahren, unterstützte sie mehrheitlich die kandidatur blochers für den bundesrat. die cvp wehrte sich, einen sitz in der landesregierung. am ende gerieten sich joseph deiss und ruth metzler hinter den kulissen in die haare, und die tage der jungen appenzellerin im bundesrat waren gezählt.

2003 wurde die machtfrage gestellt, wie es in der schweizer politik unüblich war. die veränderungen in gesellschaft, politikultur und parteiensystem legitimierten dies, wurden aber zu belastungsprobe für die konkordanz. von zauberformel mag ich seither nicht mehr sprechen, nur noch von formel. wie konsenssuche kann überhaupt nicht mehr die rede sein, nur noch von wechselnden allianzen, um eine mehrheit zu haben. ob das eine zeitgemässe anpassung des regierungssystems der schweiz ist, die zu neuer stabilität führt, oder aber nur ein zwischenschritt in einer gründlichen transformation des bundesrates und des parlaments ist, weiss ich nicht wirklich.

auch ueli maurer und seine svp, die am 19. oktober 2003 so klar kommunizierten, als sie ihre eigeninteressen im auge hatten, blieben die antwort schuldig, ob sie eine schweiz mit einer verwässerten allparteien-regierung wollen, wo nur noch wählerInnen-anteile zählen, oder eine regierungs- und oppositionssystem mit einer bürgerlichen mehrheit unter ihrer politischen führung.

stadtwanderer

wie die territorialstrategie der svp 1999 fast unbemerkt aufgeht

“17 Prozent” lautete die prognose von filippo leutenegger, dem damaligen chefredaktor des schweizer fernsehens, am vorabend der nationalratswahlen 1999. das wäre ein plus von 2-3 prozent gewesen; er hätte die chance bestanden, dass die svp die cvp überholen und sich hinter der sp und fdp auf dem dritten platz einreihen würde.

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kartei des parteipolitischen wandels: die roten vierecke symbolisieren die wählerInnen-gewinne der svp bei den nationalratswahlen der 90er jahre

es kam anders: die svp legte 1999 um 7,6 prozentpunkte zu – was die grösste veränderung war (und ist), die es je in der schweizer wahlgeschichte unter proporzbedingungen auf nationaler ebene gegeben hat(te) – und die svp avancierte mit ihren 22,5 prozent erstmals in ihrer historie (es-aequo mit der sp) zur wählerstärksten partei der schweiz.

mit der einverleibung der kleinen freiheitspartei und der marginalen schweizer demokraten in die neue svp hatte man allgemein gerechnet; nicht aber damit, dass die aufstrebende partei namhaft in die hochburgen der fdp und die stammlande der cvp vordrängen würde. das ganze hatte system, territorilastrategie genannt.

demnach griff die svp, ausgehend von ihren regionen, wo sie schon stark war, die ehemals politischen verbündeten frontal an. das war für die berner und waadtländer noch ganz ungtewohnt, und in den regierungstreuen gebieten verlor die svp sogar. doch legte sie in zürich planmässig kräftig zu, und sie machte in luzern, basel, genf und st. gallen grosse fortschritte. bis heute wirkt das erfolgrezept von 1999 vielerots noch nach.

das wahlergebnis von 1999 überraschte im übrigen auch mich. ja, die veränderungen waren viel grösser, als es die svp selber angenommen hatte. am wahlabend brachte sie wenig geordnet die forderung auf, im bundesrat gestärkt zu werden. franz steinegger, der damalige fdp-präsident, für den der feind in der svp steckte, konterte dies schon während der sonntäglichen elephantenrunde so vehement, dass kein programm daraus werden konnte – vorerst nicht.

dass wir analytiker und kommentatoren allesamt zu ungenau hingeschaut hatten, was sich in den regionen tat, hatte nicht zuletzt mit der neuen mediensituation zu tun. roger schawinksi war mitten im wahlkampf 1999 mit seinem telezüri auf sendung gegangen, was für eine heidenaufregung sorgte. entbrannt war aber nicht die suche nach zuschauer und zuschauerinnen, entfesselt wurde der hahnenkampf unter den chefredaktoren der bisherigen durch die wette, wer christoph blocher mit einer relevanten aussage zur zauberformel zuerst auf dem sender hat.

diese rahmenbedinung ist nicht ohne nebengeräusche eben erst entschärft worden. zum guten, wie ich finde!

stadtwanderer

wie der rücktritt von otto stich den wahlkampf 1995 neu aufmischte

1995 steuerte der streit zwischen verkehrsminister adolph ogi und finanzminister otto stich seinem höhepunkt zu. denn der berner svp-bundesrat warb aus regionalpolitischen überlegung für zwei neat-transversalen, derweil das sp-regierungsmitglied die finanzierung von zwei tunnels für eine schwere belastung für den öffentlichen haushalt hielt.

detailder perfekt inszenierte wechsel von otto stich zu moritz leuenberger im bundesrat bescherte der sp den grössten wählerInnen-zuwachs seit einführung des prozorzwahlrechtes.

am 31. august kam es zur überraschende wende. otto stich kündigte seinen rücktritt aus der bundesregierung an. das war auch gleichzeitig die geburt des event-marketings. denn mit dem ausscheiden eines ihrer bundesräte mitten im nationalratswahlkampf überraschte die sp nicht nur die gesamte politische konkurrenz. die traf, kann hatte sie den ersten hammerschlag getroffen, gleich ein zweiter. die auf alles bestens vorbereitete sp-präsident peter bodenmann präsentierte in der folge7 denkbare nachfolger für otto stich, mit denen man sich hinfort medial auseinandersetzen musste, womit man unfreiwillig deren wahlkampf und den der sp oben drein betrieb.

man weiss es: nie gewann die sp seit einführung des proporzwahlrechtes für den nationalrat einen so grossen wählerInnen-anteil hinzu wie 1995. und die plus 3,3 prozentpunkte sind bis heute der sp-rekord geblieben.

das hat das szenario “bundesratsrücktritt im wahlkampf” berühmt gemacht. 1999 kopierte es die cvp und rette so die vorläufig letzte erfolgreich doppelvertretung im bundesrat. doch löste diese nachahmung auch politische gegenreaktionen aus. bundesratsrücktritt im wahljahr sind seither verpönt. die cleverste schlussfolgerung hat die svp darauf gezogen: sie setzt seither auf den wahlsieg, der sie im bundesrat stärken oder ihre vertretung sichern soll. 2003 brachte diese christoph blocher in die bundesregierung, 2007 täuschte sich seine partei nach dem wahlsieg jedoch, den sitz ihres stars mit dem wahlergebnis gesichert zu haben.

wie überraschend das perfekt vorbereitete neue momentum im wahlkampf 1995 war, lässt sich aus folgender remineszenz ableiten: radio drs vermeldet am 31. august in den 14 uhr nachrichten den rücktritt von otto stich als primeur. als die zuständige redaktorin die info, die sie kurz davor erhalten hatte, durch die bundeskanzlei verifizieren liess, dementierte diese zuerst. man sei eben noch in der bundesratssitzung vertreten gewesen; keine spuren von rücktrittsdiskussion seien erkennbar gewesen. nur wenig später kam dann die überraschende bestätigung aus dem bundeshaus. stich habe ganz am ende der sitzung sein rücktrittsschreiben verlesen – womit alles seinen lauf nahm.

seither nennt man das ereignismanagement. ausgangspunkt ist eine stark verdichtete handlungsabfolge, die medialisiert eine erwartungshaltung kreiiert, dass jetzt etwas entscheidendes geschieht. weil medien solche situationen lieben, gibt es spin-doctors (in parteien, in pr-agenturen, aber auch in medien selber), die solche geschichten drehen, damit kontinuierliche aufmerksamkeit erheischen und aber einer gewissen dauer ihrer kampagne meinungsbildend wirken.

überigens: die neat wurde gebaut, stichs nachfolger moritz leuenberger musste allerdings viele zusätzliche mittel auftreiben, um beide ogi-röhren finanzieren zu können. und im wahlkampf 2011 spekuliert man wieder, die viel kritisierte bundespräsidentin micheline calmy-rey könnte im september 2011 zurücktreten, um den sp-wahlkampf zu beflügeln. damals hatt die partei die 18.5 prozent wählerInnen-anteil aufzupolieren; diesmal wären es die 19,5 aus der letzten wahl!

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wie 1991 so manches ins rutschen kam

der 1. januar 1992 begann für mich schlecht. ich rutsche am morgen auf dem winterlichen glatteis aus und brach mir die rechte hand. meine schlussarbeiten als forschungsassistent und lehrbeauftragter an der uni bern musste ich dann mit links machen. dazu zählte auch die vox-analyse zu den nationalratswahlen 1991. gemeinsam mit sibylle hardmeier war ich mandatiert, die untersuchung zu machen und den bericht dazu schreiben. das wurde dann auch publiziert.

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Jürg Scherrer, erster Nationalrat der Autopartei aus dem Kanton Bern, und letztes Exekutiv-Mitglied der gleichen Partei in Biel/Bienne, heute Ehrenpräsident der Partei, die 1991 ihren höhepunkt hatte

meine persönliche erinnerung an die wahlen 1991 wird durch die autopartei geprägt. sechse jahre zuvor gegründet, kannte die neue rechtspartei 1991 ihren höhepunkte. im nationalrat kam sie auf 8 sitze. mit ihr hatte eine populistische partei neuen typs erstmals wirklichen erfolg. denn man unterschied sich von den schweizer demokraten, die ein zu kleinbürgerliches bild abgaben und einseitig auf migrationsfragen eingeschworen waren. dem versuchte man mit der autopartei etwas neues entgegen zu setzen, ging es doch um eine allgemeinere staatskritik, namentlich um beklagte einschränkungen rechtlicher und belastungen finanzieller natur. zum inbegriff des neuen freiheitsdenken avanciert der autofahren, das schönste für den unabhängigen mann, von der polizei schikaniert und vom steuervogt in beschlag genommen. es entstand auch eine neue feindbildpolitik, das auf den ebenso erstarkten grünen (“latzhosenträger” und “ökofuzis”) aufbaute.

man weiss es, die autopartei ist heute bedeutungslos. vor zwei jahren verlor sie mit dem abgang von jürg scherrer in biel-bienne ihr letztes exekutivmandat. ihr niedergang setzte jedoch schon mit der ewr-abstimmung 1992 ein, denn die svp machte es sich von nun an zur aufgabe, irritierte eu-gegner im eigenen land zu sammeln und öffnete mit der kampagne hierzu dem populismus den weg in eine regierungspartei. zahlreiche autoparteiler traten in der folge zur svp über, die verbliebenen begründeten sich als freiheitspartei neu, kannten aber keinen wirklichen erfolg mehr.

auch mein aufstieg als wahlforscher (und nicht-autofahrer) ist mit der autopartei verbunden. denn mit ihrem auftreten nahm auch das interesse an solchen phänomenen zu, und die nachfrage nach analysen wuchs im in- wie auch im ausland. ein referat mit dem titel “Linke und Grüne an die Wand nageln und mit dem Flammenwerfer drüber” – dem martialischen zitat von fraktionschef michael dreher, das der sonntagsblick publik gemacht hatte – verschaffte mir einladungen von bern bis wien. interessiert waren bürgerlicher parteien, die sich vom populistischen stil abgrenzen wollten, aber auch stiftungen, die sich mit den frühen erscheinungen des neuartigen phänomens in ganz europa ursächlich auseinander setzten.

meine kleine retrospektive auf zurückliegende wahlen macht mir heute deutlich, wie erheblich der politkulterelle, politkommunikative, aber auch politthematische wandel ist, der 1991 seinen ersten grossen politischen sieg feierte, danach transformiert anwuchs und uns heute so prägt.

ach ja, noch eines verbindet mit mich mit der autopartei von damals. am hirschengraben 5, wo ich seit mitte der 90er jahre arbeite, war vormals das parteilokal der ap-bundespartei. und im parteilokal, wo einst michael dreher ein und aus ging, machte ich die jüngste präsentation des wahlbarometers, das unter dem titel erschien: “Die SVP ritzt die 30 Prozent Marke”.

wahrlich 1991/92 bin nicht nur ich beim anstossen auf neue jahr ausgerutscht; die ganze parteienlandschaft der schweiz kam ins rutschen.

meine erinnerung an die wahlen 1975 und was daraus für 2011 wurde

meine mitarbeiterInnen feiern heute mit mir meine 25 jahre beim gfs. was mich erwartet weiss ich nicht. vielleicht etwas mit ein rückblick auf wahlen, oder gar eine vorausschau auf den oktober, denn 2011 stehen diesbezüglich wichtige entscheidungen an. woran ich mich in diesem zusammenhang aber erinnere, davon kann ich sehr wohl schon vor der kleinen interenen feier berichten.

das wahlergebnis 1975 überraschte: sp und cvp gewannen, während fdp und svp verloren. letztere lag erstmals (und letztmals!) unter 10 prozent, der damaligen eintrittsschwelle in den bundesrat. das resultat löste heftige diskussione aus. modellrechnungen zeigten: eine koalition aus sp, cvp und ldu hätte die mehrheit im national- und ständerat gehabt, und so eine neue bundesratszusammensetzung ermöglichen können.

3-300x196raimund germann, analytiker der wahlen 1975, bei denen erstmals ein politologe den rahmen der zau- berformel als quintessenz der politischen ent- scheidfinung in der schweiz durchbrach

die diskussion riss der zürcher tages-anzeiger an. theoretischer wortführer war der politologe raimund germann, der später das idheap als weiterbildungsstätte für bundesbeamtinnen in lausanne begründete. er war überzeugt, ein system der alternanz würde mehr zum fortschritt in der schweizer politik beiträgen als das der konkordanz. damit stand er jedoch weitgehend alleine. unter den zeitgeschichtlern und politologen widersprachen ihm urs altermatt und leonhard neidhard, wie germann alle der cvp nahe stehend, viel schweizerischer geprägter als germann. so wurde schon damals auf die konkordanzzwänge verwiesen, die sich aus den volksrechten ergeben würden, und auf die notwendigkeit der bündelung von kräften in einem staat, der sich einem kulturell stark fragmentierten umfeld gegenübersehe.

nun wurde mir aber gerade im rückblick auf die thesen von germann bewusst, dass sie es waren, die mich beflügelten, mich systematischer mit schweizer politik auseinander zu setzen. die parteien erschienen mir nützlich, um interessen durchzusetzen. befreiend wirkten sie aber nicht, denn die fdp dominierte alles, und sie dultet ausserhalb des von ihr definierten konsenses nichts.

in der zwischenzeit hat sich zahlreiches geändert. der landesring der unabhägigen ist von der politischen bühne verschwunden. cvp und sp gewinnen keine wahlen nicht mehr. die svp muss nicht mehr zitieren, ob sie 10 prozent-schwelle überschreitet oder nicht. die konkordanzkritik wiederum ist allgemeinwärtig geworden. kaum stehen wahlen an, finden die hintergrundsspalten der schweizer medien hier ihr vorrangig behandeltes thema. der konkordanz hat das alles nichts genützt. sie ist kein staatsprogramm mehr, eher eine flüchtige mischung aus kooperation, polarisierung und zweckallianzen.

auch ich habe mich verändert. gewachsen ist die einsicht in den sinn der konkordanz. dieser regierungskultur geht vielleicht das spektakulär ab, und sie tendierte dazu, konflikte zu verdrängen. doch ist sie auf dauer angelegt, und auf ausgleich in einem eher zusammegewürfelten staat. zugenommen hat auch meine feststellung, dass die realität heute vom ideal stark abweicht. letztlich haben wir anomische zustände: übergeordnete ziele und gelebt werde fallen längst auseinander.

da wird man sensibler, wenn namhafte tenöre der schweizer politik zum ende der konkordanz aufrufen. so hanspeter kriesi, der führende zürcher politologe, der diese woche via nzz angesichts der harschen polarisierung zur ordnung aufrief und der serbelden sp empfahl, ihre identität im jungbrunnen der opposition neu zu definieren. und so auch die weltwoche, die heute die streitkultur über jeden klee lobt, nicht weil sie lösungen bringt, aber die verhasste käseglocke über der schweizer politik sprengen soll.

doch frage ich mich, wohin wollen wir: die heutige politkultur zum massstab aller dinge nehmen und das regierungssystem anpassen, oder das politsystem aus sich heraus verstehen, und nach den anforderungen an regierungsparteien fragen?

beides hat unterschiedliche konsequenzen: im ersten fall soll die stärkste partei die regierungsverantwortung im innern und nach aussen übernehmen, – was auch immer dabei heraus kommt. im zweiten fall heisst es, nach koalitionen zu suchen, sie nicht nur macht wollen, sondern auch politik betreiben wollen.

seit 1986 bin ich nun beim gfs als politforscher angestellt. seit 1987 beteilige ich mich an der diskussion von nationalen wahlen, seit 1999 mache ich einen wichtigen teil der analysen selber. das wird auch 2011 der fall sein.

doch selten hatte ich so stark das gefühl, diesmal stehe ein richtungsentscheid an: denn der erfahrungsraum, den ich mir in einem vierteljahrhundert aneigenen konnte, ist so gross wie noch nie, und doch erscheint er mir angesichts des erwartungshorizontes, der sich gegenwärtig auftut, viel zu klein, um wirklich zu erahnen, was alles geschehen könnte, letztlich aber auch, was effektiv wird.

mal schauen, ob mir meine jungen mitstreiterInnen beim gfs.bern, heute abend weiter helfen können!

stadtwanderer

religiöse minderheiten in der direkten demokratie

gut ein jahr nach der schweizerischen volksabstimmung zum minarettsverbot legt ein politologisches forschungsteam der uni bern ein umfassendes werk zum generellen verhältnis von direkter demokratie und religiösen minderheiten vor. eine kurzzusammenfassung.

101209_minarett.indd“Minderheiten, die selbst über keine politischen Rechte verfügen, einem anderen Kulturkreis als die Bevölkerungsmehrheit angehören oder sich erst sein Kurzem im Land aufhalten, bedürfen eines besonderes Rechtsschutzes vor Volksentscheiden.” mit diesem satz schliesst adrian vatter, herausgeber des neues werkes zur religiösen minderheiten in der direkten demokratie, das eben erschienen ist, ab. zusammen mit sechs mitarbeiterinnen seines instituts hat er für den schweizerischen nationalfonds einige jahre dazu geforscht. entstanden sind dabei verschiedene berichte; folgen sollen noch mehrere doktorarbeiten. ihnen gemeinsam ist, dass sie nicht den volksentscheid zur minarettsinitiative kritisieren, wie das gerade nach der abstimmung üblich war, sich aber generelle gedanken machen, wie die rechte religöser minderheiten in der direkten demokratie gewahrt werden können.

in geraffter form präsentiert werden die ergebnisse des projekes im buch “Vom Schächt- zum Minarettverbot“. darin versammelt sind dreizehn aufsätze, welche zentrale wendepunkte in der geschichte religiöser abstimmungen nachzeichnen. die historie über 163 jahre geschichte widmet sich einem zentralen punkt der schweizerischen verfassungsgeschichte: der tatsache nämlich, dass das schweizerische grundgesetz nur für bürgerInnen christlichen glauben geschaffen wurde, und konfessionelle diskriminierungen erst in einem langwierigen prozess zugunsten einer konfessionelle neutralität zurückgedrängt wurden.

die zentrale sozialwissenschaftliche these vatters ist es, dass volksabstimmungen über minderheiten immer auch ausdruck von nähe- und distanzverhältnissen sind. je konvergenter sich beispielsweise religiöse gemeinschaften gegenüber stehen, desto eher ist die mehrheit bereit, der minderheit rechte zuzugestehen und umgekehrt. daran sollte man gesellschaftlich arbeiten, bevor die rechtstellung verändert wird, denn privilegien aus der sicht der mehrheit können schnell verwehrt werden, wenn sie ungeliebte gesellschaftsgruppen betreffen. abstrafungen via volksabstimmung bringen jedoch nichts, sodass die autoren erwägen, über minderheitenrechte via umfassende revisionen abstimmen zu lassen.

anstösse von aussen, politischer laizismus der politik und ähnliches stehen am anfang der abschaffung religiöser diskriminierungen in der bundes- und in den kantosnverfassungen, hält vatter fest. er zeichnet nach, dass in solchen prozessen die immer voraus gegangen sind, wirtschaftliche gleichstellungen einfacher zu haben waren, und kulturelle themen vermehrt zu konflikten geführt haben. was gegenüber katholiken und juden im föderalistischen kleinklein der schweiz schrittweise gelang, scheiterte indessen bisher gegenüber muslimen – auf kantonaler wie auch auf nationaler ebene.

das buch erweist sich als besonders nützlich, wo es gesellschaftliche konflikte herausarbeitet, die religiösen volksabstimmungen zurgrunde liegen, wo wiederkehrende argumentationsmuster aufgespürt werden, mit denen die rechte von minderheiten eingeschränkt werden, wo die ausgleichenden behördenstrategien und ihre politische unterstützungen nachgezeichnet werden, und wo problemlose resp. problematische vorlageninhalte und ihre politischen mobilisierungspotenziale aufgezeigt werden.

wenn man den bericht durchgeht, ist unübersehbar, dass volksentscheide zu religiösen minoritäten der letzten 160 Jahre eine sammlung von verzögerungs-, ablehnungs- und verschärfungsbeschlüssen sind, wie es die autoren in ihren eigenen worten sagen. doch das buch belehrt einen auch eines anderen. vatter und sein team wollen die direkte demokratie nicht abschaffen, so wie dies alexis de tocqueville wegen des potenzials als mehrheitstyrannei im 19. jahrhundert forderte. die verfechter gut funktionierender institutionen sind nämlich überzeugt, dass es nicht auf die einzelne enscheidung ankommt, sondern auf das design von entscheidungsverfahren. so empfehlen sie der politik die pflege der politische (vermittlungs)kultur und die etablierung verfassungsmässiger regelungen des minderheitenschutzes. zudem fordern sie verantwortungsvolle behörden und medien, gerade in religiösen fragen.

denn konfessionelle fragen sind nicht primäre themen der politik, doch so wichtige sekundäre, dass diese besondere aufmerksamkeit verdienen. denn ohne die versinkt man rasch in religiösen streitereien. die schweiz hat das zu ihrem vorteilt gelernt. jetzt wünscht man sich nicht nur zurückblickende übersichten hierzu, sondern auch vorausschauende handlungsanleitungen, damit konflikte wie jener bei der minarettsinititive nicht verdrängt, aber vermieden werden können.

stadtwanderer

wieder vermehrt im leutschenbach

zum auftrakt des wahljahres erscheint heute das erste wahlbarometer 2011. ich werde wieder vermehrt im leutschenbach zu gegen sein. ein paar gedanken auf dem weg nach zürich.

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ich weiss, nicht alle mögen umfragen vor wahlen. zum beispiel die parteien nicht, die schlecht abschneiden. zum beispiel gewisse medien nicht, die lieber selber schiedsrichter spielen, als die bürgerInnen zu wort kommen zu lassen. und zum beispiel wissenschafterInnen, die sich im forschungsfeindlichen kulturpessimismus üben.

immerhin, die reaktionen, die ich auf der strasse und in den restaurants erhalte, sind mehrheitlich positiv. denn sie wissen und spüren, dass demokratische öffentlichkeit nicht nur die der organisierten akteure sein darf, sondern auch sie eine stimme haben müssen.

leer geschluckt habe ich dafüe dieser tage, als ich von regula stämpfli, meiner ehemaligen mitarbeiterin (und stadtwanderer-leserin), mehrfach las, wer demokratie vermesse, schaffe sie ab. mit verlaub: ich widerspreche!

denn wer demokratie und demokratische entscheidungen nicht kontrolliert, öffnet der macht und dem machtmissbrauch tür und tor. das eine ist die politische kontrolle, das andere die politologische. beide ergänzen sich, und beide sind nötig.

demokratien sind im 21. jahrhundert in die defensive geraten. das stimmt. weil sie auf einer zentralen annahme basieren: sie sind die führende regierungsweise in führenden volkswirtschaften. heute gilt das so nicht mehr. mit china orientiert sich eine der prosperiendsten wirtschaften der welt, nicht mehr an demokratiekonzepten. in zahlreichen osteuropäischen demokratien fehlt es dafür am ökonomischen unterbau der jungen demokratie. und andernorts regieren autokratischer maker mit ihrer medienmacht über ganze völker.

doch: wer das vermisst, ist ein freund, kein feind der demokratie!

sicher, das wahlbarometer zu den wahlabsichten oder smartvote als kandidatenspiegel, interessieren sich für anderes. es geht ihnen nicht um institutionelle ausgestaltungen, die mehr oder weniger demokratisch sein können. doch auch sie vermessen, wenn man es so will, demokratische entscheidungen, damit sie durchschaubarer werden, fakten ansichten gegenüber stehen und so ein rationaler diskurs über politik erhalten bleibt.

demokratien leben von öffentlichkeit, und die besteht aus der beobachtung, der teilnahme und der kollektiven identitätsbildung. wer empirische forschung mit abschaffung gleichsetzt, verkennt die dinge.

deshalb halte ich hier fest: gewalttätiges handeln, autoritäres denken und machtkonzentration gefährden die demokratie weltweit, nicht ihre erforschung.

das ist nicht nur meine tiefste überzeugung. es ist auch die meinung vieler meiner kollegInnen in der wissenschaft und auch einiger zahlreicher mitstreiterInnen in den medien. keine und keiner von ihnen ist mir als demokratieabschaffer bekannt!

stadtwanderer

energiedebatte in der energiestadt wohlen

grosse politik im kleinen wohlen. die energiestadt zwischen bern und mühleberg diskutierte mit einem hochkarätigen podium die fortführung des kernkraftwerkes im benachbarten mühleberg. der stadtwanderer war unter den mehr als 100 gästen dabei.

Schulbezirkewohlen bei bern: ein sammelsurium aus vororten von bern und bauerndörfern am wohlensee, der in mühleberg endet.

vordergründig den stärksten auftritt des abends hatte urs muntwyler, professor an der hiesigen fachhochschule und bis ende 2010 inhaber einer solarstromfirma, die heute in wohlener hände ist. er breitete seite vision der energieversorgung in der schweiz aus. danach würde der strom in absehbarer zeit zur zentralen kraftquelle und dieser würde weitgehend durch erneuerbare sonnenenergie produziert werden. martin pfisterer, geschäftsleitungsmitglied der bkw, widersprach dem nicht fundamental, doch ist diese zukunft nach seiner schätzung nicht vor 400 jahren zu haben. bis dann seien wir auf andere energieträger angewiesen, hielt er dagegen. und unter denen sei kernenergie klimafreundlicher als fossile brennstoffe. michael kaufmann, vize im bundesamt für energie, bestätigte, dass es bei der konsultativabstimmung vom 13. februar im kanton bern über die zukunft des amtommeilers mühleberg genau um die weichenstellung zwischen nicht-erneuerbarer kernenergie und erneuerbaren alternativen hinzu geht.

da setzten auch auch die beiden politikerInnen auf dem podium, ursula wyss von der sp und christian wasserfallen von fdp, an. für den bürgerlichen geht es in drei wochen darum, den eintritt in die zweite generation von kernkraftwerken einzuleiten, weil es kurzfristig keine alternative zur energieversorgung mit wasser und kernkraft als zentralen säulen gibt. für ursula wyss ist demgegenüber der momenten für den ausstieg aus der veralteten kernenerige gekommen. sie hofft, dass die 10 bis 15 milliarden, die mühleberg 2 kosten würde, voll und ganz in erneuerbare energiequellen investiert werden.

lisa stalder vom berner “bund” leitet das podium geschickt. sie nahm die tagesaktualtität im abstimmungskampf auf, liess dann aber der grundsatzdebatte den nötigen raum. so diskutierte man kurz, warum das zwischenlager in mühleberg in den abstimmungsunterlagen nicht erwähnt sei. “nicht der rede wert”, meinte wasserfallen, da man alles gewusst habe. “wenig vertrauensbildend”, erwiderte ihm wyss. kontroverser waren die reaktionen auf die angeküpndigte reduktion der bkw zum anteil der erneuerbaren energien. “mit blick auf die abstimmung ungeschickt”, monierte wasserfallen, während pfisterer die sda kritisierte, unsachgemäss berichtet zu haben. von wollen keine spur, meinte er, von müssen schon, da es auch gegen solche projekte widerstände in der gesellschaft gäbe.

mehr als 100 personen verfolgten in der energiestadt wohlen die debatte zur anstehenden volksabstimmung im kanton mit nationaler ausstrahlung. der eine nachbar bern hat seine antwort schon im november 2010 gegeben und beschlossen, bis 2040 aus der kernenergie auszusteigen. dafür nimmt man ein gaskraftwerk in kauf. der andere nachbar, kkw-standort mühleberg, wird am 13. februar höchstwahrscheinlich gegenteiliges tun. entsprechend lavierte der wohlener gemeindepräsident knecht bei seinem votum zur volksentscheidung. er lobte firmen wie diese auf dem gemeindebann, warb dann aber kleinlaut für ein ja zum ersatz von mühleberg.

die reaktionen waren typisch, als das publikum zum wort kam: der geologe sprach davon, die technischen probleme mit der endlagerung radioaktiver abfälle seien im prinzip gelöst; verblieben sei nur das politische problem. der entwicklungshelfer wiederum monierte, die ängste der bevölkerung in der 15 kilometer-distanz zu mühlberg seien real; man habe jod-tabeletten für den ernstfall bekommen, aber keine informationen, was man im ernstfall tun müsse. der parteilose bürger wollte wissen, warum die kernkraftbetreiber keine versicherung über 2 milliarden franken schäden hinaus hätten, was bei einem unfall in der region kaum einen pappenstile der schäden decken würde. und der lokale unternehmer fragte sich, was geschehe, wenn angesichts steigender energiekosten der strom aus mühlberg 2 dereinst teurer sei als der aus wind- oder sonnenenergien.

urs muntwyler sah sich an diesem abend bestätigt. investieren müsse man in die photovoltaik, denn nur eneuerbare quellen würden den wachsenden bedarf an energie sinnvoll decken können, sagte er. die politik, lästerte der gleiche auch, werde angesichts wachsender rückstände auf das nahe ausland den wechsel nicht rechtzeitig bewerkstelligen können. doch mag die bkw ihm nicht folgen, will die energiesicherheit bis mindestens 2060 auf ihre art sichern.

das stimmvolk wird am 13. februar 2011 entscheiden.

stadtwanderer

der cousin von ivan s.

die plakate zur volksabstimmung über die initiative “für den schutz vor waffengewalt” erobern den öffentlichen raum. zeit, genauer hinzusehen – und über den bisher unbekannten staatspopulismus nachzudenken.

waffengewalt

eigentlich ist es ein widerspruch ins sich: der populismus definiert sich dadurch, dass die interessen der einfachen leute durch vertreter der betuchten schichten vertreten werden, weil die politik, genauer die mehrheit im staat, das nicht mehr mache. demnach wäre der staatspopulismus die form des populismus, wo der staat die interessen des kleinen mannes und der kleinen frau vertritt, weil der staat das nicht mehr macht …

wenn ich mir die werbung für und gegen die anstehende volksabstimmung über die volksinitiative zu gemüte führe, komme ich zum schluss, dass genau das der fall ist. der reihe nach.

zuerst: die initiantInnen, mehrheitlich links, nehmen mit dem erschossenen teddybären die ängste der familien auf, die das drama erlebt haben, dass ein vater die mutter und die kinder mit der ordonnanzwaffee bedroht, verletzt oder umgebracht hat. sie politisieren das gefühl der unsicherheit in der gesellschaft, weil sich der staat aus ihrer sicht vernünftigen lösungen jenseits von mythen um den wehrhaften bürger im land verweigert. das kann man auch als “klassischen” populimus kritisieren.

sodann: die gegner der initiative haben zwei aussagen auf ihre plakate gebracht: einmal die bedrohte tradition der schweiz als schützengesellschaft, die im 19. jahrhundert die politische kultur der schweizerischen eidgenossenschaft mitaufbauten; sodann der illegale waffenbesitz durch ausländisch wirkende typen. mit letzterem kontert die gegnerschaft direkt, dass ihre widersacher die sonst typisch rechte thematik der sicherheit im alltag aufgenommen haben. die botschaft dazu: nicht unsere soldaten sind gefährlich, sondern die cousins von ivan s. aus der abstimmung über die ausschaffungsinitiative.

nun ist das nicht nur die fortsetzung des gebrauchs von stereotypen, wie sie die nationalkonservative opposition in den letzten 10 jahren entwickelt und werberisch verfestigt hat. es ist die kampagne der bürgerlichen parteien, die den standpunkt der mehrheit in den behörden vertreten.

für mich jedenfalls ist es neu, dass die behördenseite sich des misstrauens der bürgerInnen bedient und damit wirbt. denn ihr weltweit übliches geschäft ist es, vertrauen in die eigene sache zu fördern, welche das funktionieren des staates auch in schwierigen situationen ermöglichen soll. wenn einzelnen regierungsparteien oppositionelle stile in ihrer werbung gebraucht haben, setzte es üblicherweise eine defitige kritik ab. dass man nun genau das im namen der mehrheit von regierung und parlament macht, kann man das – bei aller semantischen problematik – eine bisher unbekannte form des staatspopulismuses nennen.

stadtwanderer

die konkordanz ist zerbrechlich, zerbrechen wir sie also!

“Wird die Tatsache, dass die Schweizer Geschichte reich an inneren Spannungen ist, die Risikobereitschaft von Souverän und Parteien erhöhen und sie im Herbst 2011 Experimente wagen lassen, welche die allseits beklagte Uneinigkeit und Handlungsunfähigkeit der Landesregierung beheben könnten?”

calmy-reys-weihnachtskarte
die konkordanz ist zerbrechlich, tragen wir ihr sorge: neujahrskarte der neuen bundes- präsidentin micheline calmy-rey mit der umgekehrten botschaft, die thomas maissen heute verbreitet

der das fragt, ist kein unbekannter: historiker thomas maissen hat im herbst 2010 eine viel gerühmte neue schweizer geschichte auf den tisch gelegt, mit der er die bedeutung der bürgerlich-fortschrittlichen kräfte ausgehend vom 19. jahrhundert für die etablierung des politischen systems herausarbeitete und betonte, das projekt schweiz sei nie fertig geworden, dafür traditionsbewusst immer unterwegs gewesen – so auch heute.

die antwort auf die in der heutigen nzz am sonntag aufgeworfenen frage lautet für maissen kurz und bündig: “Nein.”

denn der leidensdruck sei zu klein, um die liebgewordene konkordanz zu verabschieden. wozu auch?, fragt er sich, denn dem land gehe es wirtschaftlich gut. doch die politik sei nicht fähig, rechtzeitig auf entwicklungen in den usa, der eu und supranationalen gerichten zu reagieren.

in seinem beitrag entwirft der historiker mit bündnerisch-finnischen wurzeln sein gegenprojekt. denn thomas maissen ist überzeugt, dass in einer demokratie eine regierung, die ihre gemeinsame basis verloren habe, demissionieren müsse, um dem (neuen) regierungsprogramm der erfolgreichen parteien platz zu machen.

die wählerInnen schenkten bei wahlen ihren parteipolitischen favoriten ihr vertrauen, und sie sollten vier jahre später überprüfen, ob das verantwortungsvoll wahrgenommen worden ist oder nicht, ist sein argument.

in der schweiz der gegenwart heisst dies für den geschichtsprofessor in heidelberg, das überholte konkordanzsystem aufzugeben und durch eine bürgerliche koalition aus svp, fdp und cvp, allenfalls unter einschluss von bdp, evp und glp abzulösen. angesichts der 30 prozent linksgrünen wählerInnen in der schweiz garantiere das für längere zeit eine mehrheit.

angeführt werden solle die neue bundesregierung durch die svp, die ende jahr drei bundesräte bekommen solle, dafür aber auch verantwortung übernehmen müsse. das bürgerliche zentrum aus fdp und cvp solle vier sitze in der bundesregierung haben, um weiterhin die mehrheiten ausmachen zu können. die sp dagegen habe nichts mehr in der regierung verloren, und auch die grünen würden keine alternative hierzu bieten.

klassische einwände, wie die wirkungen der direkten demokratie, des föderalismus und der gemeindepolitik, welche die konsenssuche erzwingen würden, lässt der vordenker der bürgerlichen nicht gelten. mindestens als experiment befürwortet er einen systemwechsel, um zu sehen, was an der konkordanz dran ist – und was nicht.

denn diese sei im 20. jahrhundert angesichts der sprachkulturellen spaltung nach dem ersten weltkrieg, der sozialen gegensätze in der wirtschaftskrise und der äusseren bedrohung durch den nationalsozialismus entstanden. krisen im system seien üblicherweise nur bei umstrittenen personenentscheidungen wahrgenommen worden. die inhaltlichen probleme habe man erst nach 1989, dem fall der berliner mauer und dem ende des kalten krieges, realisiert. jetzt sei die zeit reif, die konsequenzen zu ziehen.

ohne das würde die schweiz nach maissen in einer paradoxen situation verharren: die rechte fordere mit einer bisher unbekannten rhetorischen brutalität die fortsetzung, was in der nachkriegszeit konkordanzpolitik gewesen sei, während die gemässigten ihre umgestaltung an den veränderten internationalen rahmen forderten. beide seien auf einem auge blind: die gemässigten unterschätzten die heftigkeit eidgenössischer konflikte, die auch in bürgerkrieg ausufern könnten, und die nationalkonservativen negierten die politischen voraussetzung des wirtschaftlichen erfolgsmodells. nötig sei deshalb eine neue verbindung, die auf beiden augen sehe!

maissens diagnose kann man durchaus folgen. seinen schluss kann man aber ebenso bezweifeln. denn ob die nationalkonservativen kräfte der schweiz, die sich in den letzten 20 jahren in form einer neuen svp gesammelt haben, willens sind, verantwortung zu tragen, wenn die wählerstimmen nicht weiter steigen, kann man bezweifeln. anfechten kann man auch, dass ein übergang zur einem regierungs-/oppositionssystem ohne gründliche institutionelle veränderungen dauerhaft nicht zu haben ist. 2008 war der belegt dafür. schliesslich fragt man sich auch, ob es richtig ist, einen neuen bundesrat zu zimmern, ohne die programmatischen anforderungen an die regierungsarbeit vorher zu erörtern.

so zweifle ich nicht, dass ein bundesrat ohne sp in der lage ist, die bürgerlichen interessen innenpolitisch besser einzuschätzen, ich bin aber sehr unsicher, dass er angesichts der kulturellen spaltungen auch aussenpolitisch das augenmass finden würde.

in meiner optik gibt es für die bundesratswahlen 2011 nicht nur einen ausweg, sondern drei szenarien gibt: erstens die von maissen skizzierte entwicklung zu einer liberalkonservativen nationalen sammlung, zweitens den ersatz von eveline widmer-schlumpf durch einen konkordanten svp-vertreter (und damit die rückkehr zur zauberformel) und drittens einen unkontrollierten übergang zur kleinen konkordanz mit dem zentrum und einem der beiden politischen flügel in der regierung.

was sich davon durchsetzen soll, würde ich nicht unabhängig vom wahlausgang beantworten, auch nicht von der fähigkeit, im wahljahr aufzuzeigen, wo zwischen den blöcken politische gemeinsamkeiten bestehen, die nicht nur im momentanen spektakel interessant erscheinen, sondern auch in der geschichte sinn machen werden.

stadtwanderer

das vergangene steuerparadies

es ist ein tolles weihnachtsgeschenk, das der bernische historische verein seinen mitgliedern gemacht hat. denn sie haben das neueste buch über berns geschichte erhalten, verfasst von stefan altorfer-ong, das er unter dem titel “staatsbildung ohne steuern” geschrieben hat.

178_9_AHVB_Bd86_grder werdegang des jungen historikers ist unüblich. nach dem studium an der uni bern ging er nach paris, schliesslich nach london, um sich vertieft seinen wirtschaftshistorischen studien zu widmen. seine 2007 auf englisch erschienene dissertation ist nun in modifizierter form auf deutsch auf den buchmarkt gekommen. einen surpluse-state nennt altorfer seinen jetzigen wohnsitz singapur, wo der staat keine schulden macht, sondern überschüsse erzielt. das war, so eine treffende beobachtung des autors, auch im staate bern des 18. jahrhunderts der fall.

die analytische kette, die altdorfer zur erklärung der unerwarteten sachverhalts entwickelt, ist elaboriert. am anfang aber steht ein für damalige verhältnisse grosser staat, der nach einer heftigen expansion im 15. und 16. jahrhundert abschied vom krieg als mittel der eroberung nahm. tiefe verteidigungsausgaben waren die folge, aus denen budgetüberschüsse resultierten, die staatsschulden zum verschwinden brachten, gewinnbringende investitionen begünstigten, was es erlaubte, weitgehend auf steuern zu verzichten. parallel zu diesem auch für die staaten des 18. jahrhunderts untypischen befund führt altorfer drei ergänzenden kreisläufe ein:

erstens, den milizkreislauf, mit dem die patrizier wie die untertanen ihren dienst an der gemeinschaft, den militärdienst, unentgeltlich erbrachten.
zweitens verweist altorfer aus dem investitionskreislauf, der zuerst den salzhandel beförderte und einträge brachten, dann zu reserven führten, die zuerst in london, dann in amsterdam und schliesslich über an königshöfen geldbringend angelegt wurden.
drittens kommt der analytiker auch auf den repräsentationskreislauf zu sprechen. der weitgehende verzicht auf steuern erlaubte eine spezifische form der herrschaft. die untertanen, blieben im lokal autonom, und bewaffnet. das erforderte von den landvögten rücksichtnahme, wenn sie mit gewinn nach bern zurückkehren wollten.

das material, das der junge historiker hierzu ausbreitet, ist nicht überall neu. es ist aber in vorbildlicher weise systematisch gesammelt und aufgearbeitet worden. im eben erschienen buch wird es, nach einer übersicht über die patrizische herrschaftsform in der res publica bernensis, in gut verständlicher form unter drei gesichtspunkten präsentiert: der langfristigen entwicklung der staatsfinanzen, ihrer umverteilung zur erfüllung der staatsaufgaben und ihrer anlage im ausland.

besonders wertvoll sind die gut 300 seiten zielgerichteter darstellung bernischer wirtschaftsgeschichte namentlich wegen des standpunktes des autors. wegen seiner guten quellenkenntnisse zur lokalgeschichte gelingt es ihm, vorhandene, sozialwissenschaftlich-vergleichenden vorgehensweisen zum leben zu erwecken. so spannt er den bogen zu grossen themen der geschichte der frühen neuzeit. dazu zählt, wie sich der steuerstaat herausgebildet hat. der üblichen these, dies sei via kriegsführung und bedarf zu anonymen kapitalmärkten mit aktiengesellschaften geschehen, kann er mit dem beispiel des bernischen staates gegenüberstellen: denn der staat entwickelt sich ohne steuern zu erheben und hierfür eine bürokratie zu entwickeln.

einen domänenstaat nennt altorfer bern im 18. jahrhundert ist, der im mittelalter ausgeformt wurde, sich mit der reformation aber verändert hatte. deshalb erhebt er ihn gar zum “unternehmerischen domänenstaat”, denn mit salz und finanzen ging der bernische staat im 18. jahrhundert geldbringend um – besser als dies noch bis ins 16. jahrhundert der fall war, aber weniger gut als das kolonialmächte ausserhalb der eidgenossenschaft vollbrachten. so erscheint das bern der damaligen zeit gleichzeitig als fossil wie auch als trittbrettfahrer, das seine vorteile unter veränderten geopolitischen bedingungen einzubringen wusste.

an die politische geschichtsschreibung gewohnt, liesst man die wertungen des autors an verschiedenen stellen überrascht und irritiert. denn sie könnte auch zur rechtfertig der feudalherrschaft angesehen werden. diese betriebsblindheit ist wohl jeder wirtschafts-, sicher aber jeder finanzgeschichte eigen, deren vorteil es dafür ist, die grundlage des funktionieren eines staates aufzuzeigen. und diese war patrimonial, aber weder eindeutig absolutistisch (wie spanien oder portugal) noch konstitutionell (wie ungarn oder polen), womit sie in der geschichtsschreibung als wenig beschriebener, eigener typ gelten kann.

die ironie der bernsichen geschichte im 18. jahrhundert ist allerdings, dass er erwirtschaftete überschuss als ultimo ratio für den kriegsfall galt, denn mit dem staatsschatz wollte man sich im kriegsfall wenigstens akut autark finanzieren. napoléon kriegsführung ohne staatsgeld führte dann dazu, dass gerade die staatsschätze reicher republiken wie venedig und bern zu eigentlichen kriegszielen avancierten, mit den die adeligen steuerparadiese jen- und diesseits der alpen ihr ende fanden.

stadtwanderer