wi(e)der die unglaubliche arroganz

zwischenhalt am kiosk. um zu wisssen, was für eine zeit wir gegenwärtig haben, blick in “die zeit”. aufgeschreckt von einem artikel zur schweizerischen eu-politik aus deutscher sicht ein paar zwingende gedanken über politik und wirtschaft jenseits von arroganz.


diese mischung aus eu und schweiz bringt keine verständigung – das aufgeklappe schweizer sackmesser der reinkultur aber auch nicht (bild keystone)

herausgefordertes deutschland
seinen bisher grössten moment hatte der deutsche jorgo chatzimarkakis, als er im september 2007 seine fdp zur bundesweiten fusion mit den grünen aufrief, um eine starke ökoliberale mitte zu bilden und so die polarisierungen zwischen links und rechts in der nationalen politik zu überwinden. selber lebt der politiker diese verbindung schon, wenn er als europaageordneter in brüssel ist. dann wohnt “chatzi”, wie er sich selber gerne nennt, nämlich mit cem özdemir, dem eu-parlamentarier der grünen in einer wg. und das ist nicht ohne, denn chatzimarkakis ist griechischstämmig, während özdemir von türkischer herkunft ist. das ist genau das, was man in brüssel von zypern erwartet.

weniger gut klappt die verständigungsarbeit allerdings, wenn chatzimarkakis auf die schweiz angesprochen wird. da kritisiert der promovierte agrar- und politikwissenschaft mit schwerpunkt europarecht die schweiz: »Ich habe hohen Respekt vor der Schweizer Demokratie. Aber ich habe demokratietheoretisch langsam ein Problem damit, dass schon wieder eine kleine Minderheit 490 Millionen Europäer aufhalten können soll.« Und dann kommt’s faustdick: »Die unglaubliche Arroganz muss jetzt mal ein Ende haben! Die Schweiz wäre längst ein rückständiger Fleck in Europa, wenn sie nicht ihr wunderbares Bankensystem hätte und ihre tollen Ausnahmeregelungen. (…) Wer, bitte, legt denn das ganze Geld da drüben an? Die Schweizer müssen wissen: Sie schaden sich selbst mehr als uns, wenn sie am 8. Februar Nein sagen.«

politik und wirtschaft parallel entwickeln
gerade demokratietheoretisch ist die eu, muss man entgegen, kein ausgesprochenes vorbild. sie ist nicht aus einer revolution hervorgegangen, die neues verfassungsrecht geschaffen hätte, das im sinne der demokratie gelebt würde. vielmehr ist sie aus der schlichten notwendigkeit heraus entstanden, nach den kriegen von 1871, 1914-1918 und 1939-1945 weiteres blutvergiessen mitten zu vermeiden. dabei setzten die gründunsväter der eu auf die hoffnung, gemeinsame industrien und gemeinsmer handel schafften verständigung.

daraus ist zwischenzeitlich zwar mehr als eine reine koordination von wirtschaftpolitiken entstanden, wohl aber kein astarierter gesamteuropäischer staat. unionsbürgerschaft und wahlen können nicht darüber hinweg täuschen, dass die eu vom europäischen rat dominiert und von der kommission geführt wird. weit fortgeschritten ist insbesondere der demokratisierungsprozess nicht, sodass man die eu besser an wirtschaftlich-pragmatischen kriterien misst als anhand demokratie-theoretischer.

und wenn schon, müsste man als politikwissenschafter mit schweizer hintergrund einwerfen, dürfte sich diese nicht auf institutionen der volksrepräsentation beschränken, sondern auch deren erweiterung durch direktdemokratische instrumente in betracht ziehen. mit diesen macht die eu erst zögerlich bekanntschaft. ein teil aus politik und administration sieht in der erhöhten involvierung der bürgerInnen durchaus die chance erhöhter legitimation. er ist deshalb bereit, auf auf bürgerInnen-partizipation einzugehen. ein anderer teil begreift das alles nur als lästige blockierung, die partikuläre interessendurchsetzung zulasten einer einheitlichen politik fördere.

die schweiz sollte sich in dieser debatte weder über- noch unterschätzen, ist meine antwort “zuhause”. unterschätzen würde sie ihre reichhaltige erfahrung gerade mit der bürgerInnen-beteiligung im politischen willensbildungsprozess, wenn sie diese nicht in den eu-aufbauprozess einbringen würde. überschätzten würde sie sich aber, glaubte sie, ihr spezifisch gewachsenes entscheidungssystem in der politik sei das einzig wahre in der politik.

die arroganz hüben und drüben abbauen
hinter beiden steckt eine unglaubliche arroganz im politisch-kulturelle sinne. denn die eu braucht dringend demokratisierungen ihrer technokratischen selbstverständnisses von politikgestaltung. die jüngsten ablehnungen von verfassungsentwürfen in frankreich, den niederlanden und in irland zeigen, wie verbreitet die distanz zu den menschen ist. ganz zu schweigen, dass es auch bedenken auf verfassungsebene in deutschland gibt und sich selbst politikerInnen in polen und tschechien sträuben, wenn die perspektive von unten in der willensbildung vernachlässigt wird. das alles gilt, selbst wenn es kaum ernsthafte kritiken an den wirtschaftlichen vorteilen des eu-projektes gibt.

umgekehrt braucht die schweiz dringend mehr spiegelungen ihres demokratischen selbstverständnisses. entscheidungen, die man einmal getroffen hat, sind verbindlich. gerade zu kalkulierbare wirtschaftliche verhältnisse zu sichern. so gut die schweiz in innenpolitischen fragen damit gefahren ist, dass man alles und jedes immer und wieder in frage darf, so problematisch ist das, wenn es um wrtschaftspolitische partnerschaften mit dritten geht. denn die unverbindlichkeit von zusagen auf der einen seite wird in der regel durch unverbindlichkeit von zusagen auf der anderen seite pariert. das klima des misstrauens, das so entsteht, ist keine basis für kooperation über grenzen hinweg. vielmehr nährt sie die polarisierung, die wir gegenwärtig erleben.

herausgeforderte schweiz
ein ja zur personenfreizügigkeit gäbe es nur, forderte christoph blocher an der albisgüetli-tagung 2008, wenn die eu darauf verzichte, weitere forderungen zum bankgeheimnis zu stellen. wer glaubt, unrealistische vorbedingungen zu verhandlungen stellen zu müssen, kriegt diese mit voller wucht zurück, denn das echo an die adresse der schweiz lautet heute: personenfreizügigkeit ja, wenn ihr die privilegien für euer bankensystem weiter wollt.

jorgo chatzimarkakis will mit seiner ökoliberalen idee die blockierende polarisierungen im deutschen parteiensystem verhindern. gut so, sag ich. wer verantwortung für politik und wirtschaft übernehmen will, muss auch polarisierungen zwischen partner abbauen helfen, füge ich an die adresse aller beteiligten bei.

soviel zur heutigen “zeit”!

stadtwanderer

cal

ich bin der berner stadtwanderer. ich lebe in hinterkappelen und arbeite in bern. ich bin der felsenfesten überzeugung, dass bern burgundische wurzeln hat, genauso wie ich. also bin ich immer wieder auf der suche nach verästelungen, in denen sich die vergangene kultur in meiner umgebung versteckt hält.

7 Gedanken zu „wi(e)der die unglaubliche arroganz“

  1. Arroganz, Angst und Naivität abbauen und einen herzhaften Schritt Richtung EU tun. Diese Union ist zwar noch lange nicht dort, wo sie sein sollte. Gerade darum braucht sie aber das langgewachsene Know-how der Schweiz – dieses bedächtige, abwägende und pragmatische Voranschreiten.

    Gleichzeitig sollten viele Schweizerinnen und Schweizer Scheuklappen ablegen und lernen, weniger überempfindlich auf Kritik von aussen zu reagieren. Wir brauchen – wie du sagst – dringend “mehr spiegelungen ihres [unseres]demokratischen selbstverständnisses”. Und nicht nur unseres demokratischen, sondern unseres Selbstverständnisses überhaupt.

    Diese Spiegelungen sind in der Regel aber eben Kritik, manchmal schmerzende, weil harsche Kritik.

    Auf dem einen Auge sind viele von uns blind. Da liegen Banknoten drauf. Vielleicht öffnet uns die momentane Diskussion um die UBS-Boni die Augen, wer weiss? Um es noch einmal deutsch und deutlich zu sagen: Die UBS erhält Milliarden vom Staat und leistet es sich, ohne Wimpernzucken, nicht offen zu legen, wer seiner Leute wie viel bekommen soll. Ein Aufschrei ist da. Aber er ist bei weitem nicht so laut, wie er sein müsste. Wir sitzen – mit Merz – ganz augenscheinlich immer noch gelähmt, wie die Karnickel vor dem Scheinwerferlicht und lassen die UBS weiter wirtschaften, wie es ihr beliebt. – So geht das nicht.

    Levrat rechnet das in der heutigen Sonntags-Zeitung vor: “Teilt man die 2 Milliarden aber durch die Anzahl UBS-Mitarbeiter, gibt das 25’000 Franken pro Kopf. Das heisst, dass einige andere sehr viel Geld erhalten. Und viele von ihnen sind wohl mitverantworltich dafür, dass der Bund intervenieren musste”. Soweit Levrat.

    “Die Schweiz wäre längst ein rückständiger Fleck in Europa, wenn sie nicht ihr wunderbares Bankensystem hätte und ihre tollen Ausnahmeregelungen”. Diese Kritik von Chatzimarkakis müssen wir uns darum gefallen lassen, auch wenn sie weh tut. Weil sie mehr als einen Funken Wahrheit enthält.

    Abgesehen davon: Wieder mal ein genialer Geschichtsunterricht von dir. Man müsste dich klonen und in jede Schule schicken!

  2. Vorab: Der vom Autor des fraglichen Artikels gewählte Ton bringt deutlich zum Ausdruck, dass man mit der EU eher unzufrieden ist. Man könnte sogar eine gewisse Bewunderung für die Schweiz herauslesen. Wäre sich der Autor der Zustimmung der Leser nicht so sicher, hätte er sich anders, neutraler ausgedrückt.

    Ich frage mich, ob wirklich die Schweiz mit ihrem Demokratie-Verständnis das Problem ist oder nicht etwa jenes von Chatzimarkakis: “Aber ich habe demokratietheoretisch langsam ein Problem damit, dass schon wieder eine kleine Minderheit 490 Millionen Europäer aufhalten können soll” Ich möchte hier die Betonung auf das “schon wieder” legen. Dieses geht nämlich nicht auf unsere Kappe, sondern auf jene der Iren, Franzosen und Niederländer. Aber wie heisst’s so schön: Die Letzten beissen die Hunde – und das könnten wir sein…

    Über unser Demokratie-Verständnis können wir durchaus diskutieren. Und trotzdem: Über eine EU-Verfassung sollte doch jeder einzelne Staat seine Bürger abstimmen lassen MüSSEN – auch wegen der erwähnten Legitimierung.

    Würde man die EU-Bürger in die Entscheidungsprozesse mittels Abstimmungen miteinzubeziehen, nimmt man sie auch in die Pflicht. Niemand kann dann mehr sagen, “die in Brüssel”.

    Was dazu allerdings auch nötig ist – und deshalb sind wohl auch viele EU-Staaten nicht bereit, ihre Souveränität in Form von nationalen Abstimmungen aufzugeben – ist ein brauchbarer Minderheitenschutz. Die heutige Regel “alle oder keiner” führt eben gerade zum fraglichen Frust. Sie blockiert. Und doch mag sich niemand gerne von einer anderen Region überstimmen lassen – Röstigräben sind im Vornherein zu vermeiden.

    Übrigens, gibt’s eine Studie aus dem EU-Raum, ob und wie die EU-Bürger mitbestimmen wollen? Diese ist bestimmt äusserst spannend und könnte sehr hilfreich sein.

    “Die Schweiz wäre längst ein rückständiger Fleck in Europa, wenn sie nicht ihr wunderbares Bankensystem hätte und ihre tollen Ausnahmeregelungen”. Eisvogel, gewiss steckt dahinter ein Funken Wahrheit. Und doch: Überbewerten darf man die Sache auch nicht. Wir haben schliesslich nicht nur Banken, oder?

    Gemäss OSZE-Statistik betrug die tatsächlich geleisteten Arbeitszeit pro Arbeitsstelle und Jahr im 2007 in der Schweiz 1648 h. Jene in Deutschland “nur” gerade mal 1433 Stunden. Die BfS-Statistik “Streiks und Aussperrungen im internationalen Vergleich” enthält leider keine Zahlen zu Deutschland, bestätigt aber im europäischen Vergleich, was wir ohnehin schon wissen: Es gibt sie bei uns praktisch nicht. Beides hat wahrlich nichts mit den Banken zu tun. Ich wage die Vermutung, dass es stattdessen eher mit Konkordanz zu tun hat, dem Einbezug der wichtigsten politischen Kräfte in die Regierung. Aber dieses Wort kennt man wohl nur in der Schweiz…

  3. Rittiner & Gomez: Habt Ihr meinen Kommentar als “Abwehrreflex” verstanden oder meint Ihr Merz & Co?

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