“Die Schweiz als paradigmatischer Fall politischer Integration” meint auf gut schweizerisch “Willensnation”

Startetappe meiner neuen Stadtführung zum “Politischen System der Schweiz”, irgendwo in deer Altstadt

Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts veröffentlichte der tschechoslowakisch-amerikanische Politikwissenschafter Karl W. Deutsch ein Buch unter dem Titel «Die Schweiz als paradigmatischer Fall politischer Integration». Gemeint war, dass der Verbund der Eidgenossenschaft schrittweise aus einem Bündnis von Städten und Ländern hervorgegangen sei, die sich frühzeitig vom Feudalismus gelöst hatten. Nicht der hohe Adel wie in halb Europa war die Grundlage unserer Staatsbildung. Es waren Gemeinwesen, weshalb man unser Staatswesen als «kommunalistisch» gewachsen bezeichnet.

paradigmatisch

Souveränität von aussen: das recht auf Unabhängigkeit
Aus der Sicht des souveränen Staates gibt es die Schweiz erst seit der Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress 1815. Damals wurden die Grenzen der Schweizerischen Eidgenossenschaft verbindlich festgelegt, der Staatenbund aus 22 Kantonen als innere Struktur definiert und dem Bund die Neutralität auferlegt.
1648 wurden wir der «Corpus Helveticum» aus dem Kaiserreich ausgenommen, wir mussten uns keinem Schiedsgericht des Kaisers mehr stellen. 1500 war eine Vorstufe hierzu beschlossen worden. Corpus Helveticum ist jedoch keine Bezeichnung für einen vollsouveränen Staat, eher für ein Konglomerat, das berechtigt war, als Ganzes mit souveränen Mächten zu verhandeln.
Doch ist das nur die Sicht von aussen.

Souveränität von innen: das Recht auf eigene Gesetzgebung
Die Sicht von innen ist, dass wir aus Kantonen bestehen, vor der französischen Revolution Orte genannt. In unserem Verständnis souverän, sprich Gesetzgeber, waren 13 Orte in einer Tagsatzung miteinander verbunden; einige weitere waren zugewandt Orte und ganze Landstriche galten als nicht-souveräne Untertanengebiete.
Zu den 13 souveränen Orte gehörten seit 1513 sechs Orte mit Landsgemeinden. Konkret waren dies Uri, Schwyz, Unterwalten, Zug, Glarus und Appenzell. Sieben Orte beständen aus Städten mit eigenen Untertanen. Zürich, Schaffhausen und Basel hatten eine Zunftverfassung. Bern, Luzern, Solothurn und Freiburg wurden von Patriziern geführt. In den Zunftstädten regierten Gewerbetreibende und Händler, in den patrizisch geführten Orten waren es reiche Landbesitzer, die meist bei fremden Herren militärischer Karriere gemacht hatten.
Bern gehörte zu den typisch patrizischen Ort mit einer ausgeprägt republikanischen Staatsauffassung. Flächenmässig war er der grösste Orte, wenn es um den Einfluss in der alten Eidgenossenschaft ging, stand er oft mit Zürich in der Konkurrenz. Die wirklichen Gegner waren aber die katholischen Orte.

Bedrohungen der Souveränität durch kulturelle Spaltungen
Die grösste Bedrohung der eidgenössischen Einheit war lange die konfessionelle Spaltung. 1529, 1531, 1653 und 1712 kam es zu vier Religionskriegen unter Eidgenossen. Zuerst waren die Katholiken aus der Innerschweiz siegreich, schliessen die Reformierten, von Zürich und Bern angeführt. Damit wurden beide Glaubensbekenntnisse einander gleichgestellt.
Die Franzosen 1803, die Oesterreicher und die Russen 1815 haben bewusst versucht, diesen Grundkonflikt der alten Eidgenossenschaft in den Hintergrund zu rücken. Sie hatte die Schweizer Eidgenossenschaften um insgesamt 9 Kantone erweitert, davon 5 mit französisch- oder italienischsprachiger Bevölkerung. Stets war die Absicht, die Deutschsprachigen zu zwingen, sich mit Französischsprachigen zusammenzufinden.
Heute wissen wir, die politische Führung einer kulturell gespaltenen Gesellschaft ist anspruchsvoll. Hierzu haben wir eigene Herrschaftstechniken entwickelt: kulturelle Minderheiten müssen in den Regierungen vertreten sein; die Bevölkerung wird nicht mehrheitlich, sondern proportional in Behörden repräsentiert; kulturelle Minderheiten haben mit eigenen Kantonen ihre autonomen Räume bewahren können, ohne Parallelgesellschaften zu werden. Generell haben wir ein recht feines Sensorium für den Minderheitenschutz stark entwickelt – formell wie informell.

Die Schweiz: eine Staatsnation, keine Kulturnation
«Paradigmatischer Fall politischer Integration» heisst auf gut schweizerisch «Einheit in der Vielfalt» wie es die Helvetische Gesellschaft im 18. Jahrhundert nannte oder «Willensnation», was die Liberalen seit dem 19. Jahrhundert bevorzugten. Gemeint ist, dass es einen Willen geben muss, über konfessionelle und sprachliche Grenzen hinweg einen weltlichen Staat zu führen, dessen vornehmste Aufgabe es ist, die Freiheit auf der Basis des Rechtsstaates zu verteidigen. Wir sind eben anders als Frankreich, Deutschland, Italien oder Oesterreich eben keine Kulturnation. Wir sind eine Staatsnation, die gelernt hat, verschiedenen Kulturen in sich zu vereinigen.
«Eine Willensnation muss wollen», meinte Kaspar Villiger, der als bisher letzter ein Buch zu diesem Thema geschrieben hat. Was damit gemeint war resp. bis heute damit gemeint ist, werden wir nun auf dieser Stadtführung kennen lernen.

Stadtwanderer

Das politische System der Schweiz: historische Lehren und zukünftige Herausforderungen.

Seit Tagen arbeite ich fieberhaft an einer neuen Standwanderung. Ihr Thema ist “Das politische System der Schweiz”. Während dreissig Jahren habe ich es als Politikwissenschafter von Innen her kennen gelernt. Nun betrachte ich es (mit meinem ganzen Insiderwissen) von Aussen – und als Historiker. Hier schon mal ein Einstiegstext zum Rahmen der neuen Führung, die ich am September 2018 im Programm habe.

Weltpostdenkmal_Bern
Weltpostdenkmal in Bern – Erinnerung daran, das Bern die Weltstadt der Briefmarken-Zeitalter war, und heute kein globales Zentrum, sondern ein nationales ist.

Die nachindustrielle Gesellschaft
Den Begriff der «nachindustriellen Gesellschaft» hörte ich zu Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts erstmals. Gemeint war, dass eine Bildungsrevolution die fortgeschrittenen Industriegesellschaften grundlegend ändern werde. Bildung werde zur wichtigsten Ressource für das gesellschaftliche Fortkommen werden. Ich merkte damals, dass ich selber ein Teil davon sein würde.
Die damals optimistische Sichtweise auf die nachindustrielle Zukunft ist heute einer pessimistischen gewichen. Das nicht zuletzt mit der politischen Entwicklung in der westlichen Welt zu tun. Die Wahlen 2016 in den USA waren eine Art Wende: Hillary Clinton, die Vertreterin der gesellschaftsliberal gesinnten «Nach-Industriellen» verlor. Es siegt Donald Trump, der versprach, das nationalkonservative Gegenteil zu sein. Seither schwindet der Multilateralismus, es regiert der Protektionismus.

Der Globalisierungskonflikt
Heute ist viel von Globalisierungskonflikt die Rede. Nützen würde die Globalisierung den asiatischen Mittelschichten, schaden der Arbeiterschaft in den westlichen Gesellschaften, analysieren viele. Gewinnen würden zukunftsweisend ausgebildete und global ausgerichtete Eliten, gegen die sich zunehmend mehr Nationen stellten, um ihre nationalen wirtschaftlichen Interessen und ihre kulturelle Identität zu bewahren. Denn mit der Globalisierung verringere sich das Wohlstandsgefälle zwischen den Nationen, es wachse aber in der Nationen, meint etwa die Harvard Politikwissenschafterin Pippa Norris.
Wenn Historiker von Globalisierung reden, weiten sie den Blickwinkel aus. Die erste Welle fand demnach im 16. Jahrhundert mit der sog. Entdeckung der neuen Welt und der Integration des Gewürzhandels in den europäischen Markt statt. Die zweite begann im 19. Jahrhundert mit der Industriellen Revolution, und die dritte habe mit dem Ende des kalten Krieges in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts eingesetzt – und dauere an.

Bern und die zweite Globalisierungswelle
Die Bundesstaat Bern war in der zweiten Phase der Globalisierung sehr wohl eine internationale Stadt. Das Weltpostdenkmal erinnert an die Pionierrolle im internationalen Briefverkehr ab 1870. Ihr Ende fand die globale Phase der Stadt nach dem Ersten Weltkrieg. Die politischen Organisationen gingen mit dem Völkerbund nach Genf, die multinationalen Gesellschaften gedeihen heute in Zürich besser.
selbst wohlwollende Kritiker des politischen Systems der Schweiz, wie etwa die Bundespräsidenten Deutschlands, meinen, das Berner Schicksal könnte dereinst die ganze Schweiz ereilen. Denn wegen der direkten Demokratie würden wir wirtschaftlich bald ins Hintertreffen gelangen.

Die Schweiz und die dritte Globalisierungswelle
Der Globalisierungsindex des KOFs an der ETH Zürich widerspricht: Wir sind weltweit ziemlich stabil auf Platz 5, wenn es um die Globalisierung resp. Standortwettbeerb geht. Hoch ist die gesellschaftliche Globalisierung mit internationalen Firmen, ausländischer Bevölkerung und globaler Werbung. Hoch ist auch die wirtschaftliche Globalisierung – etwa im Finanzwesen. Selbst die Politik sieht das KOF dank vieler diplomatischer Beziehungen und Staatsverträge international hoch vernetzt.
Als ich mit meinem Studium in den 80er Jahren fertig war, machte das Buch des Politologen Peter Katzenstein die Runde. Es ging um die Frage, wie kleine Staaten in der globalen Welt bestehen können. Katzenstein gab uns zwei Botschaften mit auf den Weg: den Arbeitsmarkt offen und flexibel zu halten und die eigenen Probleme mit einer «korporatistischen Demokratie» selber zu regeln. Der wirtschaftliche Wettbewerb würde gut gerüsteten Staaten wie die Schweiz, die Niederlande oder Norwegen nicht überfordern, der politische dagegen schon.

Das Gleichgewicht bewahren zwischen Wirtschaft, Staat und Demokratie
Eine Neuauflage der Gedanken von Katzenstein für die heutige Zeit hat Dani Rodrik, Oekonomie-Professor an der Harvard Universität. formuliert. Er meint, dass Globalisierung, Nationalstaat und Demokratie in einem fragilen Verhältnis zueinander stünden. Wer die Oekonomie verabsolutiere, vernachlässige entweder den Nationalstaat oder die Demokratie.
Rodrik lobt die Schweiz ausdrücklich als Beispiel, die ein Gleichgewicht suche zwischen wirtschaftlichen Erfordernissen, staatlicher Eigenständigkeit und Sorge zur demokratischen Entwicklung. Damit grenzt er sich deutlich von jenen ab, welche Politik nur als reine Fortsetzung des Marktes sehen. Denn dabei vergisst man gerne, das gerade demokratische Politik ein Forum ist, auf dem nach dem besten Argument gerungen wird und die Bürgerschaft entscheidet, wer dieses Privileg vorgetragen hat.
Demokratie Wettbewerb hat ein Problem, Demokratie ohne Partizipation ist nichts.

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